Essen.. Im Essener „Hotel Franz“ ist die Hälfte der Belegschaft behindert. Diese Mitarbeiter sind nicht nur hochmotiviert, sie sehen auch Dinge, die für behinderte Gäste zur Falle werden können. Ein Besuch in einem ungewöhnlichen Gasthaus.
Marvin macht fünfmal die Woche Sport. Fußball, Handball, Tischtennis, Reiten, „Muckibude“ auch noch. Aber das ist nicht das Besondere. Besonders ist: Er macht das – er betont das extra – „mit ganz normalen Leuten“! Und das ist für einen wie Marvin Schräder nicht normal.
Da steht er, auf dem Kopf eine Kunststoff-Haube, an den Beinen eine karierte Kochhose, ganz Küchenjunge mit schiefem Grinsen: „Allen muss es schmecken“, sagt Marvin, und dafür tut es nun wirklich nichts zur Sache, dass der 22-Jährige eine geistige Behinderung hat. Es gibt heute Putensteak mit Kartoffelgratin für das ganze Franz-Sales-Haus und seine Gäste, 1500 Essen, und was Marvin dazu beigetragen hat? „Spüle, manchmal Küche, aufräumen, was wir hier halt so machen.“ Und abends, sagt er, „hat man das Gefühl, dass man was getan hat“.
"Drei Sterne plus Charakter"
Das ist viel für Menschen wie ihn, die andere für nicht leistungsfähig genug halten für den ersten Arbeitsmarkt. Aber Marvin ist deshalb nicht „Zweiter“ in seinem jungen Arbeitsleben; er hat einen Job im „Hotel Franz“. „Drei Sterne plus Charakter“, wirbt das Haus in Essen für sich selbst, der „Charakter“ ist das integrative Konzept: Die Hälfte der Mitarbeiter ist behindert, auf die eine oder andere Weise, viele Gäste sind es auch. Das Tagungshotel, angeschlossen an das Franz-Sales-Haus, einen der großen Träger für Behindertenhilfe in NRW, will ein barrierefreies sein. Mit unterfahrbaren Tischen, Waschbecken und Theken. Mit Rollstuhl-Zimmern, die größer sind, aber nicht teurer. Mit Induktionsschleifen, Lichtklingeln und bebilderten Schaltern.
Was man alles wissen muss, weil man es nicht gleich sieht in diesem hellen, modernen Gebäude. „Wir wollten nicht“, sagt Direktor Günter Oelscher, „dass es aussieht wie eine Pflege-Einrichtung. Das will der normale Gast auch nicht.“ Der will auch keine Einschränkungen beim Service – hat er aber auch nicht. „Unsere Mitarbeiter fühlen sich fürs Haus verantwortlich“, sagt Susanne Aldenhövel, Chefin des „Housekeeping“, also gewissermaßen oberste Haushälterin der Herberge. Sie hat bei ihren Zimmermädchen diesen besonderen Ehrgeiz entdeckt: „Sie wollen genau so gut sein wie in jedem anderen Hotel.“
Kampf gegen Schwächen
Und fast schaffen sie das auch. Vielleicht brauchen sie noch ein paar Minuten mehr für Saugen, Wischen, Putzen, Bettenmachen. „Aber da arbeiten wir noch dran; sie können stolz sein.“ Sie sind es auch: kämpfen gegen ihre Schwächen bei Kraft, räumlichem Vorstellungsvermögen, Gedächtnis. Und wollen immer mehr: Was die eine kann, möchte die andere auch lernen. „Wenn einer erklärt, wie das geht, machen wir das auch“, sagt Marvin Schräder in der Küche (er würde so gern mal Essen ausfahren im Elektromobil).
Die Mitarbeiter gehen in ihrer Aufgabe auf
Es sei „mit das Schönste“, sagt Direktor Oelscher, „zu erleben, wie die Mitarbeiter in ihrer Aufgabe aufgehen“. Wie sie „Verantwortung übernehmen, wenn man sie lässt“, ergänzt Susanne Aldenhövel. Ein behindertes Zimmermädchen hat sich neulich bedankt: weil ihr „endlich mal einer in den Hintern tritt“. Nicht, dass das wörtlich zu nehmen wäre. Aber Kritik ist im Hotel Franz das Gefühl, „normal“ behandelt zu werden. Lob auch: Katharina etwa macht laut Chefin „tolle Betten“.
Überhaupt, Katharina: die sich so herrlich aufregen kann, wenn es in den Zimmern aussieht wie bei Hempels unterm Sofa („gestern: dieses „Durcheinander!“). Die aber sonst immer lacht. Beim Bügeln. Beim Putzen. Beim Aufschütteln der Betten. Es muss doch etwas geben, was sie am liebsten macht? Die Wäsche? Betthupferl auslegen? Nein, die 20-Jährige schüttelt heftig den Kopf. Alles macht Spaß!
"Das ist bezahltes Fitness-Studio"
Katharina Koitka strahlt und stottert vor Eifer, wenn sie aufzählt, was sie tut den ihr lieben langen Arbeitstag. 100 Wischmöppe waschen, die Lappen nach Farben in den Schrank sortieren („rot für die Toilette, blau zum Staubwischen“), Arbeitskleidung bügeln, Glühbirnen wechseln. Und eben die Zimmer. „Das ist bezahltes Fitness-Studio“, lacht Chefin Aldenhövel, „die turnen hier den ganzen Tag rum.“
Katharina sieht sich um im Raum, den sie gerade fertig hat, rückt einen Stuhl zurecht, das macht ihr die Kollegin nicht ordentlich genug, versucht, die Bügel an der Garderobe auf Linie zu bringen. Besonders gern übernimmt die 20-Jährige Abenddienste bei Veranstaltungen, sie kontrolliert dann die Bäder („Frauen waschen das ganze Becken, Männer schmieren den Spiegel voll“), kriegt ein Walkie-Talkie für Notfälle. „Erst die Gäste“, hat sie gelernt. „Manchmal hat jemand seine Hausschuhe vergessen.“ Holt sie eben welche.
"Alles, was sozial ist, kommt zu uns"
Für diese „menschliche Atmosphäre“, mit der das Hotel Franz seine Gäste lockt, sollen vor allem die behinderten Mitarbeiter sorgen. Bezuschusst wird deren Beschäftigung vom Land und dem Landschaftsverband Rheinland; hierher fließen die Ausgleichsabgaben von Unternehmen, die keine Behinderten einstellen. Seit der Eröffnung vor einem Jahr hat sich herumgesprochen, dass in diesem Hotelbetrieb die viel geforderte Inklusion gelebt wird: „Alles, was sozial ist, kommt zu uns“, heißt es. Christliche Konferenzen, Gewerkschafts-Tagungen, Vereine. Aber auch Touristen, Messebesucher.
Und diese Woche eine Prüfungskommission, die die Barriere-Freiheit testet. Die ist nicht nur behauptet im Hotel Franz, sie ist erprobt – und trotzdem noch verbesserungsfähig. Denn „was für Blinde gut ist, ist für Rollstuhlfahrer vielleicht schlecht“, hat Günter Oelscher gesagt. Oder umgekehrt: Die bodentiefen Fenster im Erdgeschoss bieten Rollstuhlfahrern eine wunderbare Sicht; für Sehbehinderte ist die Sicht womöglich schlecht – sie könnten die Scheiben übersehen.
Sie arbeiten nicht nur, weil sie es müssen
Es kommt vor, dass gerade die behinderten Mitarbeiter solche Probleme entdecken. Sie haben Ideen, sie lieben es, selbst die Dinge zu bewegen. Das ist der Anspruch des Trägers: dass hier Menschen nicht einfach nur an der Arbeit gehalten werden. Sondern dass sie lernen, wenn möglich so viel, dass sie sich auch am „normalen“ Markt bewerben können. Susanne Aldenhövel weiß, dass sie ihre Zimmermädchen empfehlen kann: „Man merkt ihnen an, dass sie nicht nur arbeiten, weil sie’s müssen.“
Man merkt es an Katharina Koitka: Als die Chefin noch nachdenkt über eine nächste Aufgabe, ist sie schon entschwunden. Strahlend, wie immer voller Vorfreude: „Ich geh jetzt Toiletten checken.“