Essen.

Sie sind 15 und 16 Jahre alt. Sie spielen Fußball und sie haben einen Linienrichter zu Tode getreten. Die schockierende Nachricht vom Tod des 41-Jährigen Familienvaters aus den Niederlanden macht auch Thorsten Flügel (43) fassungslos. „Dass so etwas passiert. . .“ - dem Vorsitzenden des Essener Fußballkreises Nordwest fehlen die Worte.

Mehr als sein halbes Leben hat Thorsten Flügel als Schiedsrichter Fußballspiele gepfiffen. Ein solcher Gewaltexzess, wie er nun nicht nur den Fußball im Nachbarland erschüttert, hat eine Vorgeschichte, ist der ehemalige Schiedsrichter-Obmann überzeugt. Eine Geschichte, die sich fast jedes Wochenende auch auf den Asche- und Kunstrasenplätzen dieser Stadt wiederholt.

Verbale Gewalt, Pöbeleien gegen Spieler oder Schiedsrichter gehören dort längst zum Alltag. Dabei bleibt es nicht immer. Sieben Spielabbrüche hat es im Nord-West-Kreis in der laufenden Saison gegeben. Sieben Abbrüche in nur dreieinhalb Monaten. Im Stakkato zitiert der Kreisvorsitzende aus den Protokollen: „Schiedsrichter von Zuschauern mehrfach bedroht – Spielabbruch; Spieler beider Teams gehen aufeinander los, Zuschauer stürmen auf den Platz – Spielabbruch; Spieler versetzt Schiedsrichter einen Kopfstoß – Spielabbruch. . .“

Die Hemmschwelle sinkt

Die Liste ließe sich fortsetzen. Die beschriebenen Vorfälle ereigneten sich allesamt in den Kreisligen A und C, in den unteren Klassen des Amateursports. Doch auch im Jugendbereich kam es schon zu Spielabbrüchen. „Im letzten Jahr bei einem Spiel der E-Jugend“, berichtet Flügel. Ein Trainer der Neun- und Zehnjährigen war auf einen Betreuer der gegnerischen Mannschaft losgegangen. „Es kam sogar zu einer Strafanzeige.“

Über die Ursachen kann auch der Kreisvorsitzende nur spekulieren. Die Hemmschwelle zu Gewalt sei gesunken, nicht nur im Fußball. Blickt Flügel in die Statistik, falle auf, dass Spieler mit ausländischen Wurzeln häufiger auffällig werden. Ein heikles Thema. Flügel will keine Klischees bedienen und nicht in die „ausländerfeindliche Ecke“ gestellt werden.

Aber Zahlen lügen nicht. Versäumnisse sieht er vor allem bei den Vereinen, ganz gleich welcher Nationalität die Spieler seien, die dort auflaufen. Statt Kicker, die zu Gewalt auf dem Platz neigen, vom Spielbetrieb auszuschließen, sähen die Clubverantwortlichen viel zu oft darüber hinweggesehen, wenn wieder mal einer ausrastet. Welcher Club zieht schon freiwillig seinen Torjäger oder Spielmacher aus dem Verkehr?

Aggressionen müssen konsequenter geahndet werden

Versäumnisse sieht der Funktionär auch auf Seiten des Fußballverbandes. Aggressionen gleich welcher Art müssten konsequenter geahndet werden. „Was nützt es, wenn ein Spieler sechs Wochen gesperrt wird und dann fällt die Sperre noch in die Winterpause?“ Gerade Wiederholungstäter gehörten strenger bestraft und aus dem Verkehr gezogen, über Jahre oder für immer. „Man sollte auch über Punktabzüge nachdenken. Vielleicht werden die Vereine dann wach.“

Spielabbrüche nach Ausschreitungen

Die Kurzmeldungen im Sportteil der WAZ Duisburg vom Dienstag: Spielabbruch in der Fußball-Kreisliga B, „weil sich der Schiedsrichter nach einer gelb-roten Karte bedroht fühlte“. Spielabbruch in der Kreisliga C, weil ein vom Platz gestellter Spieler „den Schiedsrichter tätlich angreifen“ wollte. Ein gewöhnlicher Spieltag?

Gerade in Duisburg kämpft die Kreisliga gegen das Prügeln. Faustschläge gegen Zuschauer, handfeste Streits auf und neben dem Platz, ein Fußtritt gegen den Kopf eines Trainers sorgten zuletzt für besondere Unruhe – denn es ist erst ein Jahr her, dass bei den Duisburger Amateuren nach massiven Ausschreitungen ganze Spieltage abgesetzt werden mussten: Schiedsrichter hatten sich geweigert zu pfeifen. Mehrere Spieler wurden für Monate gesperrt.

Aber auch in Dortmund klagen die ehrenamtlichen Unparteiischen, „die Gewalt hat zugenommen“. In manchen Städten regeln die ganz Kleinen ihre Spiele mittlerweile selbst, damit Eltern und Schiedsrichter nicht aneinandergeraten können. In Schwerte endete im Mai 2011 eine Kreisliga-Partie in der 65. Minute, nachdem ein Spieler dem Schiedsrichter einen Kinnhaken verpasst hatte. Und im März 2012 endete ein Spiel aus der Bezirksliga für einen Schiedsrichter im Krankenhaus. Einig waren sich die Teams aus Essen und Oberhausen nur darin: „Mit Fairness hat das nichts zu tun.“

Gewaltbereitschaft wächst in einem dafür empfänglichen Klima. Was ist davon zuhalten, wenn bei Spielen der E- oder F-Jugend Eltern brüllen oder ausfallend werden? Im benachbarten Süd-Ostkreis wurde deshalb bereits vor mehr als einem Jahr eine Bannmeile erlassen. Zuschauer müssen 15 Meter Abstand zum Spielfeld halten. Dies soll verhindern, dass sich von außen aufgeheizte Stimmung auf den Platz überträgt. Auch da wären eigentlich die Vereine gefordert, den Eltern ins Gewissen zu reden, so Flügel. Viele Vereine seien jedoch froh über jeden Jugendspieler.

Da nimmt man sogar Eltern, die sich nicht im Zaun halten können, eben in Kauf.