Essen. . Zum Job des Essener Sportpsychologen Ulrich Kuhl gehört, Athleten auf die Olympischen Spiele in London vorzubereiten. Damit das mentale Training gelingt, “paddelt“ er auch schon mal mit den Kanu-Sportlern an seinem Schreibtisch.
Das Büro von Ulrich Kuhl an der Norbertstraße konnte in jüngster Zeit schon mal zur olympischen Kanurennstrecke werden. Dann nämlich, wenn ein Athlet mit geschlossenen Augen an seinem Besprechungstisch saß und im Kopf über den Dorney Lake in der englischen Grafschaft Buckinghamshire paddelte. Die Kanuten kennen ihre Strecken, können bei der Trockenübung fast die Schläge zählen. „Wir gehen die Situation immer wieder durch. Es muss ein Vertrautheitsgefühl entstehen“, sagt Ulrich Kuhl.
Der 64-Jährige ist gewissermaßen Hauspsychologe am Olympiastützpunkt Rhein-Ruhr und hat neben Essener Kanuten weitere Olympioniken auf die Wettkämpfe in London vorbereitet – Badmintonspieler etwa oder die Taekwondo-Kämpferin Helena Fromm. Im Hauptberuf berät er Manager, die ähnlichem Druck ausgesetzt seien wie Spitzensportler. Von einem „Rucksack“, den beide Gruppen zu tragen haben, spricht Kuhl zu Anschaulichkeitszwecken gerne, und je nach Umständen kann dieser Rucksack eben mal leichter und mal schwerer sein.
Wenn es um die Olympischen Spiele geht, so darf man annehmen, wiegen die Brocken gefühlte Tonnen. Die vielfach vorgetragene Enttäuschung über den Start der Deutschen dürfte die Sache nicht einfacher gemacht haben. „Ich bin nicht dafür da, den Medaillenspiegel für Deutschland aufzubessern. Diesen Rucksack darf man sich nicht aufsetzen.“ Das ist das Mantra, das Kuhl Sportlern mitgibt. Lag es nach Dafürhalten des Fachmanns denn nun tatsächlich an den Nerven, dass selbst Favoriten strauchelten? „Mit vorschnellen Analysen wäre ich vorsichtig. Ich würde nicht alles auf die Nerven zurückführen, aber bei der Arbeit in diesem Bereich gibt es sicher noch Potenzial.“
Kein Stigma mehr
Hielt mancher im Sportbetrieb es lange als ein Zeichen von Schwäche, wenn Athleten auf psychologische Unterstützung bauten, sei dieses Stigma inzwischen zwar weitgehend überwunden, meint Kuhl. Ganz so entschlossen wie etwa die US-Amerikaner oder die Australier setze man die Hilfe für den Kopf hierzulande aber nach wie vor nicht ein. Wieviele Psychologen mitreisen dürfen zu den Spielen – „das ist jedes Mal eine neue Diskussion“. Vom Stützpunkt Rhein-Ruhr ist diesmal kein Psychologe dabei. Unter den 58 Ärzten, Physiotherapeuten und Psychologen, die der Deutsche Olympische Sportbund mit nach London genommen hat, sind acht aus Kuhls Zunft.
Er selbst sieht sich die Spiele im Fernsehen an. Durch die Brille des Psychologen, der andauernd in Gesichtern liest? „Nein“, sagt Kuhl, „als normaler Zuschauer mit großem Interesse für den Sport.“ Dennoch – oder gerade deshalb – muss er über vieles schmunzeln, was da dieser Tage an Analysen über den Äther kommt, etwa zur Körpersprache. „Das ist ein echtes Modewort geworden.“
Etwas weniger entspannt dürfte Kuhl die Übertragungen verfolgen, wenn seine eigenen Schützlinge am Start sind. Im Kopf steht er dann vielleicht auch auf einer Taekwondo-Matte oder am Ufer des Dorney Lake. Tun kann er nichts mehr, nur eine Glückwunsch-SMS in sein Handy tippen und darauf setzen, dass all die Gespräche, Strategiesitzungen und Entspannungsübungen Früchte tragen, und dass der Rucksack als Leichtgepäck durchgeht.