Essen. . „Ein ungewöhnlicher Fall“, leitet Richterin Gabriele Jürgensen vom Landgericht Essen die Urteilsbegründung ein. Ungewöhnlich, weil es zwar eine Vergewaltigung gegeben hatte, diese dem Angeklagten aber nicht bewusst war. Freispruch, lautete deshalb das Urteil, weil ihm die Vergewaltigung der jungen Marlerin nicht nachzuweisen war.
Eine komplizierte Beziehung. Auf der einen Seite der 25 Jahre alte Angeklagte aus Essen, der ein Japan- und Philosophiestudium abbrach und sich mit Gelegenheitsjobs und Hartz IV durchs Leben schlägt. Daneben die 19-jährige Marlerin, die nach der Mittleren Reife keinen Weg ins Berufsleben fand und bei den Eltern lebt. Vor vier Jahren lernen sie sich kennen, ziehen zusammen und trennen sich nach einem Jahr.
Komplizierte Ausdrucksweisen
Beide haben eine etwas komplizierte Art, sich auszudrücken. Der Essener: „Unsere Beziehung war von Differenzen geprägt.“ Die Marlerin: „Ich fand, er klammerte. Aber ich bin gerne allein und weiß nicht, ob andere das als Klammern sehen.“ Um Sex ging es auch, der nach ihrer Ansicht „langweilig“ war. Die ersten beiden Male in ihrer Beziehung habe sie als Vergewaltigung empfunden, ihm das aber nicht gesagt. Am 20. November – die Trennung liegt länger zurück, ab und an sehen sie sich – treffen sich beide auf dem Essener Weihnachtsmarkt.
Danach übernachtet sie bei ihm in Altenessen. Abends kommt es zum Sex, einvernehmlich. Am nächsten Morgen wird er wieder aktiv. Gewaltsex war mal Gesprächsthema zwischen ihnen, und er meint, sie zuerst ans Bett fesseln und dann mit einem Bambusstock schlagen zu müssen. Als er ihre Fesseln danach löst, nimmt sie den Stock und schlägt auf ihn ein.
Mit Anzeige gedroht
Das Gericht hört beiden zu. Richterin Jürgensen liest den E-Mail-Verkehr der beiden am Abend nach der Tat vor. Zunächst hatte die Frau eine Anzeige angedroht. Er bettelt, sie solle sein Leben nicht verbauen. Sie diskutieren lange. Mehrfach sagt sie, dass sie Anzeige erstatte, weil sie sich beim Bundeskriminalamt bewerben wolle. Der Angeklagte bleibt im Prozess dabei, dass er von ihrem Einverständnis ausgegangen sei. Im Nachhinein schließe er nicht aus, dass sie es nicht wollte. Sie bleibt dabei, dass sie nicht wollte; zur Gegenwehr aber weder geschrien noch geweint habe: „Das verbietet mir mein Stolz.“
Zweifel an der Schuld des Mannes überwiegen, auch wenn alle Prozessbeteiligten betonen, die Tat sei für die Frau „schrecklich“ gewesen. Der Eindruck überwiegt, dass sie, auch aus anderen Gründen, psychologische Hilfe benötigt. Staatsanwältin Alexandra Rott will Freispruch, Verteidiger Timo Scharrmann ebenfalls. Die Richterin spricht den Angeklagten im Urteil direkt an: „Was die moralische Seite angeht, brauche ich kein Wort zu verlieren.“