Essen. . Ich bin einmal um die Stadt geradelt, mit einer Extra-Karte für Essen, die „Grenzerfahrung“ betitelt ist. Gerade mal einen Euro will die Stadt für die Fahrradkarte haben. In Dilldorf ging es los, in Überruhr fingen die Beine an zu schmerzen. Etwas weniger als 100 Kilometer misst die Strecke rund um Essen.
Standen Sie schon mal im Ruhrtal unter der Mintarder Brücke? Diesem monströsen Bauwerk, das die A52 von Essen in Richtung Düsseldorf trägt? Es ist ein irres Geräusch. Ein kontinuierliches Rauschen, das ewig gleich bleibt, zumindest, so lange oben Autos fahren. Und gleichzeitig gibt es so ein metallenes Sirren, so als ob jemand beständig ein Stück Stahl zum Klingen brächte. Unter der Mintarder Brücke steht ein Hochofen mitten im Meer. So hört es sich zumindest an.
Ich bin einmal um die Stadt geradelt. Es gibt eine Extra-Karte dafür, sie heißt „Grenzerfahrung“, herausgegeben von der Stadt Essen. Man bekommt sie in der Touristikzentrale am Handelshof, es ist ein spiralgebundenes Heft, auf der rechten Seite sind die Kartenabschnitte, und auf der linken Seite werden Sehenswürdigkeiten beschrieben, die am Weg liegen. Gerade mal einen Euro will die Stadt für diese hochwertige Fahrradkarte haben. Das ist fast ein wenig zu großzügig für eine Stadt, die Pleite ist.
Roter Klatschmohn am höchsten Punkt der Stadt
In Dilldorf bei Kupferdreh bin ich losgefahren, immer dem lila Strich auf der Karte nach, der die Route entlang der Stadtgrenze markiert. Vorbei an rotem Klatschmohn und reifer Gerste, die im Wind schaukelte. Ich sah Fachwerkhäuser im schönsten bergischen Stil, und irgendwann war ich in Heidhausen, Preutenborbeckstraße, 202,5 Meter über dem Meeresspiegel, dies ist Essens höchster Punkt. Eine Frau ging mit ihrem Hund spazieren, das Tier war ohne Leine, er bellte mich an. „Bella!“, wies die Frau ihr Tier zurecht. Doch ich lächelte nur freundlich. Eigentlich mag ich es nicht, wenn mich Hunde anbellen. Aber hier oben, auf Essens Gipfel, wird man milde gestimmt – angesichts der sanft geschwungenen Hügel, die einen umgeben. Der Wind pustet einem ins Gesicht. Das ist wie Urlaub hier.
Und dann fuhr ich über die Kettwiger Straße – nein, nicht durch die Fußgängerzone, sondern über die Landstraße, die Velbert und Heiligenhaus mit Kettwig verbindet. Wenn man Glück mit dem Wetter hat, kann man irgendwann die Mintarder Brücke sehen, rechts, und wenn man nach links schaut: Sieht man die Hochöfen in Duisburg. Mehr Ruhrgebiet in einem einzigen Panorama geht wohl nicht.
Plötzlich hört der Radweg auf
Später, in Haarzopf, habe ich mich dann geärgert, weil an der Hatzper Straße oder Raadter Straße, ich weiß es nicht mehr genau, mal wieder so ein rot gepflasterter Radweg ohne Vorwarnung aufhört und den Radverkehr vom Bürgersteig auf die Straße lenkt, ohne Schild, ohne Markierung, ohne alles. Solche Stellen, es gibt sie überall in der Stadt, sind echt das Letzte. Da kann man’s auch gleich sein lassen mit dem Radweg.
Am Horizont sah ich einen grünen Wasserturm und dachte, das muss Frintrop sein. War aber nicht Frintrop. War Mülheim-Heimaterde. Grüner Stadtteil, alte Zechenhäuser, sehr bodenständig. Ausgerechnet hier nennt sich der Friseur hochtrabend „Inter-Coiffeur“, aber das nur nebenbei. Und der Frintroper Wasserturm, erkannte ich später, ist gar nicht grün. Sondern blau.
Hab’ ich schon gesagt, wie schön der Westen der Stadt ist? Schönebeck speziell? Diese Felder! Diese Aussicht! Dieser Himmel! In Bedingrade hab’ ich mich irgendwie ziemlich verfranst, Im Wulve und Bandstraße hieß meine Strecke, aber ich wollte eigentlich weiter westlich fahren, da, wo Dümpten anfängt.
Radeln durch Industriegebiete
Egal, die Spazierfahrt durch die eng bebaute Gegend hier ermöglicht Blicke auf Details, die man im Auto übersehen würde: Grün-weiße Wimpel in den Seitenstraßen, es muss hier ein Schützenfest gewesen sein. Männer, die in ihren Hauseinfahrten an Sportautos schrauben.
Hinter Dellwig geriet ich ins Gewerbegebiet Stadthafen, und plötzlich fand ich mich auf einem Radweg wieder, der mich direkt hinter das neue Rot-Weiss-Stadion führte. Später querte ich die Gladbecker Straße, auch die hat hier oben einen Radweg, separat geführt, aus Schotter, und, ja: Auch hier fließt die Berne, die kleine, unberühmte Schwester der Ruhr. Die Berne macht einen traurigen Eindruck, es ist eine ziemliche Köttelbecke. Trotzdem hat Radeln durch Industriegebiete, an Bundesstraßen und Großbaustellen entlang seinen ganz eigenen Reiz. Es ist etwas für Leute, die keine klassische Idylle, sondern das Besondere suchen. Rot blühenden Klatschmohn gibt es hier nicht, aber echte Steinkohle. Das ist ja, mittlerweile, durchaus was Besonderes.
RWE - das letzte Spiel
Ich habe sie gesehen, aufgeschüttet zu haushohen Bergen, es war am Rhein-Herne-Kanal. Vermutlich kommt sie nach Bottrop, in die Kokerei, vielleicht aber auch nicht. Der Radweg am Rhein-Herne-Kanal ist zuverlässig beschildert und führt zu den bekannten Örtlichkeiten der Industriekultur und -natur, in diesem Fall Nordsternpark Gelsenkirchen, von dort war es nicht mehr weit bis Zollverein, und dort, in Katern-/Stoppenberg und Schonnebeck, lohnen sich Abstiche in Seitenstraßen immer.
Unter mir der tosende Lärm der Autobahn
Hier stehen sie überall noch, die berühmten „Vierspänner“ aus rotem Backstein, die Zechenhäuser, die aussehen, als wäre der Pütt noch am Leben. In Gelsenkirchen-Rotthausen kam ich auf eine Straße, die „Steeler Straße“ hieß. Sie führte aber nicht nach Steele, sondern erst mal nach Kray. Auf der Krayer Platte standen gröhlende Nazis mit Glatzen. Es fing an zu nieseln. Unter mir der tosende Lärm der A40. Essen kann so hässlich sein.
In Überruhr fingen meine Beine dann an zu schmerzen. Den Rest der Strecke schenkte ich mir, es war sowieso nicht mehr weit. Ich hatte auch keine Lust mehr, mir den Weg suchen zu müssen. Meine Rad-Karte nämlich, kein Scherz, die hatte ich schon in Heiligenhaus verloren.