Essen. Die Frauenberatung Essen zieht nach zehn Jahren Gewaltschutzgesetz Bilanz über häusliche Gewalt. die Zahl der polizeilichen Wohnungsverweisungen erhöhte sich seitdem kontinuierlich von 91 in 2002 auf 386 in 2011. Gewalt innerhalb der eigenen vier Wände ist auch in vielen Essener Familien nach wie vor Alltag.
15 Jahre lang hat Regine M. (Name von der Redaktion geändert) alles ertragen: Die Demütigungen, die Verletzungen, die Schläge. Immer wieder erfand sie Ausreden für die blauen Flecken; es sei nur ein dummer Sturz gewesen, hieß es dann. Unzählige Male redeten die Kinder auf sie ein, ihren Mann zu verlassen – vergeblich. Die Rüttenscheiderin blieb. Bis zu jenem Tag, als ihr Mann wieder einmal im volltrunkenem Zustand auf sie losging.
Ihre damals 16-jährige Tochter hatte endgültig genug und rief die Polizei. Dies führte zum Wendepunkt im Leben von Regine M. Sie nahm Kontakt mit der Frauenberatung Essen auf und fand Schritt für Schritt den Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben.
Gewalt in den eigenen vier Wänden ist Alltag
Ihre Geschichte ist eine von vielen, die Cordula Hißmann und Eva-Maria Jäger von der Frauenberatung Essen regelmäßig zu hören bekommen. Gerade haben sie Bilanz über das Gewaltschutzgesetz gezogen, das jetzt zehn Jahre alt wird. Seitdem die Reform 2002 in Kraft trat, schossen die Strafanzeigen schlagartig in die Höhe, die Zahl der polizeilichen Wohnungsverweisungen erhöhte sich seitdem kontinuierlich von 91 in 2002 auf 386 in 2011. Gewalt innerhalb der eigenen vier Wände ist auch in vielen Essener Familien nach wie vor Alltag.
Kriminalhauptkommissar Lutz Müller, bei der Polizei Essen für den Bereich Opferschutz zuständig, interpretiert die Zahlen so: „Es ist nicht unbedingt so, dass die häusliche Gewalt so drastisch zugenommen hätte, sondern dass sich immer mehr Frauen aus der Deckung trauen und Anzeige erstatten. Allmählich kommt Licht ins Dunkelfeld.“ (Siehe Hintergrund)
Wenn es um häusliche Gewalt geht, hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung grundlegend etwas verändert, sagt Cordula Hißmann: „Früher wurden Übergriffe zwischen Ehepartnern als Familienstreitigkeit abgetan. Die heutige Gesetzeslage trägt dazu bei, dass Gewalt in der Familie auch gesellschaftlich geächtet wird.“
"Das ist ein Tabuthema"
Vor zehn Jahren konnte der gewalttätige Partner erstmals für zehn Tage von der Polizei der Wohnung verwiesen werden. Auch hat das Opfer heute im Bedarfsfall die Möglichkeit, ein Annäherungsverbot des Täters an die Betroffene, zu erwirken. Doch werden ausschließlich Frauen Opfer häuslicher Gewalt?„Zu 95 Prozent sind die Täter männlich“, sagt Müller. „Aber Ausnahmen bestätigen die Regel.“
So erreicht etwa einmal im Jahr die Mitarbeiterinnen der Frauenberatung auch der Hilferuf eines Mannes, dessen Frau die Hand gegen ihn erhebt. „Das ist ein Tabuthema und für die betroffenen Männer sehr schambehaftet“, sagt Eva-Maria Jäger, Psychotherapeutin bei der Frauenberatung. „Welcher Mann gibt schon offen zu, dass er sich von seiner Frau verprügeln lässt?“
Doch sind hilfesuchende Frauen das Gros ihrer Klienten – Cordula Hißmann und Eva-Maria Jäger können den Bedarf kaum decken. Nach einem polizeilichen Einsatz vermittelt die Polizei dem Opfer einen Kontakt zur Frauenberatung Essen. Wenn sich die Betroffene dann meldet, wird schnellstmöglich ein Termin vereinbart. „Ein Annäherungsverbot oder eine Verlängerung der Wohnungssperre muss innerhalb der zehn Tage beantragt werden“, so Jäger. Akuter Handlungsbedarf herrsche etwa bei Fällen von sexueller Gewalt. „Nach einer Vergewaltigung können wir die Frau nicht auf einen Termin warten lassen. So etwas hat Vorrang.
Frauen sollen selbstbewusster werden
Im Erstgespräch werden praktische Dinge über die rechtliche Handhabe der Betroffenen geklärt, doch versuchen die Beraterinnen auch, sie psychisch zu stärken. Was tun, wenn der gewalttätige Partner der Frau vor dem Kindergarten auflauert? Wenn er zum x-ten Mal beteuert, sich im Griff zu haben? „Auf solche Situationen bereiten wir die Frauen vor“, sagt Hißmann. „Viele werden selbstbewusster, wenn sie sich ihrer Rechte bewusst sind.“
Doch müsse man beim Thema häusliche Gewalt auch über Zivilcourage sprechen – zu häufig herrsche eine Kultur des Wegschauens. „Viele Menschen haben Angst, etwas falsch zu machen, wenn sie einen Verdacht hegen“, sagt Jäger. Doch sei Rückzug genau der falsche Weg. „Besser man ruft einmal zu viel die Polizei als einmal zu wenig.“
Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt
2002 gingen in Essen 554 Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt bei der Polizei ein, 2006 waren es bereits 603. Seitdem wird immer die 600er-Marke überstiegen. 2011 bearbeitete die Polizei Essen 692 Strafanzeigen. Landesweit stieg die Zahl von 14.300 Strafanzeigen in 2002 kontinuierlich – 2010 wurden in Nordrhein-Westfalen 22 971 Strafanzeigen vermeldet. Trotz der zunehmenden Beanspruchung der Beratungsstellen seit 2002 stellen das Land und die Kommune keine zusätzlichen Mittel etwa zur Aufstockung des Personals zur Verfügung.