Essen. Als Chef der Weißen Flotte sorgt Franz-Josef Ewers für ordentlich Bewegung auf dem Wasser. Privat ist der Taubenvater eher für den Luftverkehr zuständig. Damit die Tauben bei den Wettbewerben nicht trödeln, greift Ewers wie viele andere Züchter zum wirkungsvollsten aller Lockmittel: Sex.
Seitdem Franz-Josef Ewers Chef der Weißen Flotte auf dem Baldeneysee ist, verläuft sein Leben in etwas ruhigeren Bahnen. Aber noch heute ist sein Name unter den rund 9000 Beschäftigten der Essener Stadtverwaltung unvergessen. Eine kleine Ewigkeit, 22 Jahre lang, hat er im Personalrat ihre Interessen vertreten. Als Zweitältester unter sechs Geschwistern hat Ewers gelernt sich durchzusetzen, aber auch Kompromisse zu schließen und Allianzen zu schmieden. Mehrfach haben sie ihn dank dieser Fähigkeiten wiedergewählt, bis er genug hatte von den Frontkämpfen. Das sollen jetzt mal Jüngere machen, entschied er 49-jährig und wechselte 2006 zu den Ausflugsschiffen.
Eine Hängematte ist das natürlich nicht, sollte es auch nicht sein. Franz-Josef Ewers liebt die Herausforderung, aber genauso braucht er seine Auszeiten und einen Platz, an dem er nicht zuhören, nicht reden und nichts entscheiden muss. Diesen Platz findet er in seinem Taubenschlag. Zweimal am Tag fährt er in den Schrebergarten im Walpurgistal, morgens um 6 und abends um 6. In der Frühe gibt es Futter für die 24 männlichen Tiere und im Sommer eine Stunde Trainingsflug; und abends, wenn er von der Arbeit kommt, dann sitzt er erst mal eine lange Weile im Gang der geräumigen Schlaganlage auf einem Hocker, dreht sich eine Zigarette, guckt den Tauben zu, wie sie picken und flattern und sich aufplustern, und lässt Stress und Ärger von sich abgleiten. Und auch die Vögel mögen es, dass er da ist. Schon wenn sein Auto vor dem Gartentor hält, fangen sie aufgeregt an zu gurren und hin und her zu trippeln.
Jeden einzelnen der grau-blauen Vögel erkennt Franz-Josef Ewers von Weitem, wenn er den Schlag anfliegt und noch hoch in der Luft ist: „...an der Art, wie er ins Ziel geht, sich fallen lässt. Da hat jeder seinen eigenen Stil.“ Aber Namen gibt er ihnen nicht. Da wäre er ja zehn Minuten mit Rufen beschäftigt, wenn er sie zurück in den Schlag holt. Auf: „Komm wacker!“ hören sie alle. Solche Brieftauben wurden früher und vor allem im Krieg zur Übermittlung von Nachrichten eingesetzt, denn sie verfügen über einen erstaunlichen und immer noch nicht wirklich erklärbaren Orientierungssinn. Aus Entfernungen von mehreren hundert, sogar bis zu tausend Kilometern finden sie zurück zu ihrem Heimatschlag.
Organisation von Preisflügen
Diese Fähigkeit machen sich Züchter wie Franz-Josef Ewers für sportliche Wettbewerbe zunutze. Das geht natürlich nur im Verein. Ewers gehört – zusammen mit seinem Vater Josef, der im Nachbargarten die Weibchen und die Jungtiere hält, und zehn anderen Züchtern – zum Brieftaubenverein Essener Süden. Er bildet gemeinsam mit anderen Vereinen im Umkreis die „Reisevereinigung Velbert und Umgebung“. Deren Hauptzweck ist die Organisation von Preisflügen. Dafür werden im Sommer die Altvögel 13 mal, die Jungtiere 9 mal mit einem Speziallastwagen zu einem Auflass-Ort transportiert, von wo aus sie den Heimflug antreten.
Damit sie unterwegs nicht trödeln – Brieftauben können mit über 100 km/h schneller fliegen, als Geparden laufen und Delfine schwimmen – greifen viele Züchter zum wirkungsvollsten aller Lockmittel: Sex. Auch die beiden Ewers setzen den Wettfliegern kurz vor dem Abtransport die Weibchen in den Schlag. Die Aussicht auf die Gesellschaft ihrer Partnerin motiviert die monogamen Vögel zu größten Anstrengungen, so schnell wie möglich wieder heimzukommen. Im letzten Jahr, 2011, haben sie Vater Ewers ein besonderes Geschenk zum 75. Geburtstag gemacht. Sie holten den Meistertitel der Reisevereinigung Velbert und Umgebung. In gut 60 Jahren Taubenzucht hat Josef Ewers diesen Triumph zum ersten Mal erlebt und genossen.
Heute geht es um die Ehre und den Nervenkitzel
Früher, als die Tauben noch die „Rennpferde des kleinen Mannes“ waren und viele Bergleute hinter ihrem Zechenhaus neben dem Ziegenstall einen Taubenschlag hatten, da wurde bei Preisflügen echtes Geld eingesetzt, und mancher „Taubenvatta“ hat halbe Wochenlöhne auf seine Tiere gewettet. Heute geht es nur noch um die Ehre, aber das ist nicht weniger Nervenkitzel. Welcher Vogel wird diesmal der Erste sein? Kommen alle zurück, oder schlagen Habicht und Sperber zu? Ist einer unserer Vögel endlich schneller als der des Nachbarn? Fast so aufregend wie Schalke gegen Dortmund, findet Franz-Josef Ewers. Pfuschen ist übrigens nicht drin, denn die Flugzeiten werden elektronisch gemessen.
Anders als beim Fußball sind beim Brieftaubensport die Männer noch meist unter sich. Und diese Männer werden immer älter. Junge Leute haben kaum noch Lust, ihre Freizeit mit Brieftauben zu verbringen, auch Franz-Josef Ewers’ erwachsene Kinder nicht. Fußball ja – die Tochter engagiert sich sogar als Trainerin – aber Tauben? In der dritten Etage etwa? Und dann jeden Tag? Stadtentwicklung und Strukturwandel haben den Brieftauben den Wind unter den Flügeln genommen. Zwar sind ihre wild lebenden Artgenossen gerade in der Stadt so zahlreich wie nie, werden aber von vielen betrachtet wie Ungeziefer, als „Ratten der Lüfte“ geschmäht. Wo ist die Sympathie für die friedfertigen, anpassungsfähigen Tiere geblieben, die Achtung vor ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten?
Ewers mag seine Vögel nicht nur, er bewundert sie. Seine Tauben und er, das ist ein Geben und Nehmen. Er sorgt gut für sie, und sie fliegen gute Zeiten für ihn. Nutzlose Kuscheltiere zu halten, das käme ihm nicht in den Sinn. Zu langweilig. Nicht, dass er keinen Spaß an der Nähe hätte. Auch die Tauben schmiegen ihren warmen Bauch in seine Hand und lassen sich das Gefieder streicheln. „Aber ein bisschen sportlicher Ehrgeiz muss schon noch dazu kommen.“
Und schließlich schmecken sie ihm gut. Da ist sein Verhältnis zu den Tieren genauso unsentimental wie das des Bauern zu Kälbchen und Küken. Feiertags gibt es bei Mutter Ewers wie eh und je Kaninchenbraten, zum Dessert selbst gemachte Buttercreme-Torte und als Vorspeise ein „lecker Taubensüppchen“.