Essen. . Die Notunterkunft an der Liebrechtsstraße ist viel besser als ihr Ruf. Für Waltraud und Volker Korten ist sie eine neue Heimat geworden. „Wir haben unser Haus nicht halten können“, erzählt Volker Korten. Als Waltraud Korten krank wurde, brach ihr finanzielle Planung zusammen.

Eine graue Haustür ohne Klingeln. Kein Namensschild verrät, wer hinter der blassen Fassade wohnt. Der Rasen davor ist gemäht. Krokusse sprießen, ein Gartenzwerg sitzt im Beet. Waltraud Korten (61) öffnet ihre Wohnung, zu ihren drei Zimmern. Sie hat mit ihrem Mann viele ihrer Möbel mitgebracht und auf den 46 Quadratmetern aufgestellt. Der Umzug ist sieben Jahre her, sie kamen aus Fischlaken nach Überruhr – aus ihrem Haus in die Notunterkunft.

„Wir haben unser Haus nicht halten können“, erzählt Volker Korten (67). Der Bruder habe ausgezahlt werden müssen. Das mit der Hypothek ging gut, so lange sie beide arbeiteten. Als Waltraud Korten krank wurde, brach ihr finanzielle Planung zusammen. Dann lag da irgendwann der Brief von der Stadt im Briefkasten: die Einweisung in die Notunterkunft an der Liebrechtstraße. Eine Zeit lang zuvor haben sie noch im Büro seines Chefs gewohnt. „Wir sind mit unserer Situation von Anfang an offen umgegangen“, sagen die Kortens. Und manch einer habe ihnen beim Besuch in Überruhr bestätigt: „So schlecht habt ihr es gar nicht getroffen.“

Durchschnittliche Verweildauer: zwölf Monate

Die Verweildauer in der Notunterkunft beträgt laut Stadt etwa zwölf Monate, sei aber individuell sehr unterschiedlich. Das weiß auch Oliver Kern. Er ist Geschäftsführer des VkJ (Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten) und seit 1992 mit der Kita Wirbelwind Mieter in der Siedlung. Dort leben deutlich weniger Menschen, als noch bis in die späten 90er Jahre. Bis zu 400 waren es damals, erinnert er sich. Das ähnelte einem Auffanglager. Inzwischen erhalten vor allem Familien meistens gleich eine Mietwohnung zugewiesen.

Kern wehrt sich aber dagegen, die Lebensumstände in der Siedlung als unwürdig zu bezeichnen. „Die Menschen sind gut versorgt.“ Selbstverständlich müssen die Häuser saniert werden. Aber sie haben ja bewusst bislang keine Heizung, sagt er, denn grundsätzlich soll niemand sesshaft werden: „Es sind keine Luxuswohneinheiten.“ Mancher bleibt trotzdem jahrelang. Gründe für die Einweisung sind Mietschulden, Räumungsklagen, Darlehen für die Eigentumswohnung, die nicht mehr bezahlt werden können. Kern: Es treffe nicht nur bildungsferne Schichten.

Natürlich gibt es Alkohol- und Suchtkranke, die nicht so leicht an anderem Ort untergebracht werden können. „Aber es sind herzensgute Menschen“, sagt Oliver Kern. Eine „tolle Nachbarschaft“. Manche sind handwerklich begabt, andere kochen für ihre Nachbarn. Schauen in der Kita vorbei. Mögliche Schwierigkeiten habe die Stadt nach eigenen Angaben im Vorfeld in enger Zusammenarbeit mit der Polizei klären können: „Beschwerden aus der Anwohnerschaft gab es in der Vergangenheit kaum.“

Mit zwei Nachbarn trifft sich Volker Korten täglich: „Es gibt immer was zu tun.“ Er fegt die Wege oder mäht den Rasen. Im Beet haben sie Sträucher gepflanzt, Blümchen folgen. Im Sommer grillen sie draußen. Sie haben sich gut eingelebt: „Was blieb uns auch anderes übrig“.

Sie fahren gern ins Blaue

So wie in Fischlaken wird es nie werden, sagt die 61-Jährige. Das war ihr Elternhaus, an dem sie hing. Als klar war, dass sie es verlieren, da habe sie es nur angeschaut, weiß davon aber nichts mehr: „Das haben Nachbarn mir erzählt“. Was bleibt, ist ein wenig Heimatverbundenheit, wie sie es nennen: Die Werdener Nachrichten liegen in der Küche auf der Sitzbank. Ein Kohleofen steht gegenüber. Sie hoffen auf neue Fenster. Die alten sind undicht, Schimmel hätten sie aber nicht. „Wenn es ganz kalt wird, machen wir in den Zimmern den Elektro-Ofen an“, sagt sie. Für Kohle und Strom geht eine Rente drauf. 40 Jahre lang haben sie gearbeitet: die Verkäuferin und der Elektriker. Wie viel ihnen bleibt, „reden wir nicht drüber.“ Fürs Busticket reicht es. Sie fahren gern ins Blaue, waren mal am Wochenende in Holland im Eisenbahnmuseum.

Im Keller zeigt Volker Korten seine Eisenbahn. „Wir hätten längst hier raus sein können“, sagt er. Sie wollen bleiben. Denn die schlimmste Vorstellung ist eine Wohnung, wo er nichts machen könne. Hier hat er seine Hobbywerkstatt, baut die Häuser von Alt-Werden aus Holz nach. Die Brückstraße zwischen 1930 und 1960 steht unter ihrer Wohnung. Oben im Flur hängt ein Foto der beiden in Tracht ihres Werdener Schützenvereins. Das war 1996, ein Bild aus besseren Zeiten, sagt Waltraud Korten: „Das waren wir mal.“