Essen. . Es ist noch stockdunkel, als sich Harald Vogelsang und seine Kollegen vom Steeler Archiv auf den Weg machen. Um 6.16 Uhr starteten die fünf Herren am Donnerstagmorgen zu einer ganz besonderen Eisenbahnfahrt: 150 Jahre Bergisch-Märkische Bahnstrecke - da feierten auch die Pendler mit.

Dass er auf dem Weg zur Schule spontan Unterrichtsmaterial für seine Geschichtsklasse in die Hand gedrückt bekommt, das hat Patrick Beierle auch noch nie erlebt. „Kommen Sie rein, wir haben auch ein Sonder-Blatt für Sie“, begrüßt Arnd Hepprich den jungen Lehrer, als der etwas außer Atem die S1 in Bochum betritt. Es ist 6.16 Uhr, der Hauptbahnhof liegt noch im Dunkeln und nur einige wenige Pendler sind unterwegs. Was kaum einer von ihnen weiß: An gleichem Ort zu fast exakt gleicher Zeit saßen vor 150 Jahren die ersten Fahrgäste in der Eisenbahn auf der Fahrt nach Oberhausen. Mit dem ersten planmäßigen Personenzug auf der Verbindung zwischen Bochum und Oberhausen wurden am 1. März 1862 auch die Bahnhöfe Königssteele (der heutige Bahnhof Steele) und der Essener Hauptbahnhof eingeweiht.

Um an diese historische Fahrt zu erinnern, sind die Mitglieder des Steeler Archivs früh aufgestanden und verteilen stilecht in alter Schaffneruniform ihr “Sonder-Blatt“, das die Geschichte der Bergisch-Märkischen Eisenbahnstrecke erzählt. Mit Patrick Beierle ist gleich der erste Fahrgast ein Volltreffer: „Das ist ja klasse! Könnte ich noch so ein Sonder-Blatt für meinen Unterricht haben?“ Auch ein Foto von Arnd Hepprich und Harald Vogelsang in ihren historischen Uniformen bekommt der Geschichtslehrer. „Das ist eine tolle Aktion“, findet Beierle, „ich hoffe, dass ich mit meiner Geschichtsklasse im Stoff bis zur Industrialisierung komme, dann kann ich das Foto und das Sonder-Blatt super einsetzen.“

"Vor zehn Minuten und 150 Jahren ist der erste Zug auf dieser Strecke gefahren“

Nur ein paar Sitzreihen weiter schaut eine junge Frau überrascht von ihrem Laptop auf, als Harald Vogelsang mit der alten Karbid-Lampe um den Hals auf sie zukommt: „Guten Morgen! Vor zehn Minuten und 150 Jahren ist der erste Zug auf dieser Strecke gefahren“, begrüßt Vogelsang die noch etwas müde wirkenden Fahrgäste und drückt jedem ein Sonder-Blatt in die Hand. „Die sind ja schon richtig wach“, stellt Herbert Bürger überrascht fest. Die fünf Herren in ihren alten Uniformen fallen sofort auf, neugierige Blicke folgen Arnd Hepprich, als er zielsicher durch den Gang der S1 schreitet: „Extrablatt!“

6.27 Uhr. Zwischenstopp in Essen-Steele. Nach der stickigen S-Bahn-Luft gibt es jetzt die volle Ladung Sauerstoff. Arnd Hepprich kann einen Gähnen kaum unterdrücken. „Ja, es ist doch ganz schön früh“, stellt Hermann Ruhrbruch mit Blick auf die Uhr fest, „aber da mussten sie vor 150 Jahren auch durch.“ Kaum kommt die nächste Bahn, sind die fünf Zeitreisenden jedoch wieder hellwach. „Wie oft machen Sie das heute?“, fragte eine Passagierin, die das Sonder-Blatt aufmerksam studiert. Dass die Fahrt zu genau der gleichen Zeit wie die Jungfernfahrt stattfindet, findet sie klasse. „Das ist richtig echt, das ist eine tolle Aktion.“

Ein echter Fan wartet bereits am Essener Hauptbahnhof, als die Bahn mit Harald Vogelsang und seinen Freunden um 6.45 Uhr dort eintrifft. Walter Strothotte ist extra früh aufgestanden, nachdem er in der WAZ von der Aktion des Steeler Archivs gelesen hatte. „Ich hab schließlich jahrelange Eisenbahn-Erfahrung,“, erzählt der 81-Jährige, der seine Kamera mitgebracht hat, „ich hatte das Glück, dass ich nie auf ein Auto angewiesen war und bin ganz viel Bahn gefahren.“ Schnell schießt er noch ein Erinnerungsfoto, dann müssen die munteren Reisenden schon wieder weiter.

Mülheim-Styrum heißt das nächste Etappenziel, genau wie 1862. Die S3 erweist sich als Sammelplatz für müde Pendler. Alles scheint zu schlafen. „Entschuldigen Sie, kann ich auch so ein Sonder-Blatt bekommen?“, fragt ein Herr im Anzug Arnd Hepprich, als der schon an ihm vorbeigehen will. „Oh, ich dachte, Sie schlafen.“ Bereitwillig klären die Mitglieder des Steeler Archivs die Fahrgäste auf, warum sie so früh unterwegs sind.

Spontan ergeben sich angeregte Diskussionen zwischen Fahrgast und historischem Schaffner - trotz der frühen Uhrzeit. „Ich bin erstaunt, wie viele Leute sich für unsere Aktion interessieren, das läuft echt klasse“, freut sich Hermann Ruhrbruch. 7.23 Uhr. Ankunft am Oberhausener Hauptbahnhof: Nach 73 Minuten haben die Steeler Zeitreisenden ihr Ziel erreicht. Und mit ein bisschen Fantasie kann man sich die fünf Herren gut an gleicher Stelle vor 150 Jahren vorstellen - damals, am 1. März 1862, als sich der erste Personenzug der Bergisch-Märkischen Eisenbahnlinie in Bewegung setzte.