Essen. .

Nach Krieg, Flucht und Verschleppung kam Otto Engel 1991 aus Russland nach Essen. Die Erinnerung an ein hartes Schicksal bleibt präsent.

Denkt er an seine Kindheit, ist da seine Mutter, die ihn eines Tages an die Hand nimmt. Da sind die Flucht aus der Ukraine, die Rote Armee und die Baracken im Ural, in die sie deportiert werden. 1945.

Heute ist Otto Engel 73 Jahre alt und Vorsitzender des Forums der Russlanddeutschen in Essen, das rund 140 Mitglieder hat. Angefangen haben sie im Jahr 2000 mit etwa 20 Essenern, die sich zur Bürgerinitiative zusammenschlossen. 2002 gründeten sie ihren Verein, der seine Räume in Altenessen an der Heßlerstraße hat. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute hier stolpern“, sagt Otto Engel. Daher bieten sie Hilfe in allen Situationen. Sie haben unter anderem die pädagogische Initiative ins Leben gerufen, so dass die Kinder Nachhilfeunterricht in der Sprache bekamen, die sie verstanden.

Flucht mit Mutter und Bruder

Otto Engel flüchtet 1943 mit seiner Mutter und seinem Bruder. Der Vater ist tot – erschossen. Sie leben in Warthegau und in Jüterbog, nahe Dessau, bis die Rote Armee kommt. Und ein Güterzug. Endstation ist irgendwo im Uralgebirge. Als sie aussteigen, sind es minus 40 Grad Celsius. Sie werden erst bei den Einheimischen einquartiert, dann in einer Sondersiedlung. Es sind Baracken im Wald, die unter Aufsicht stehen.

Wer mindestens 15 Jahre alt und gesund ist, fällt Bäume, erinnert sich Otto Engel. Bis 1956 leben sie dort. Sein Bruder wird in ein Landjahrlager zur Schulung geschickt. Der älteste der drei Söhne war erst bei der Wehrmacht, später in Gefangenschaft. „Ich bin in den Baracken herumgelaufen, während meine Mutter Brennholz sammeln musste“, erzählt Engel.

30 Russlanddeutsche kommen jährlich nach Essen

Damit die Aussiedler in Essen Arbeit bekommen, hat der Verein eine Vermittlungsagentur gegründet. Die Ehrenamtlichen übersetzen unter anderem Unterlagen für Bewerbungen. Noch heute berät der Jurist Waldemar Reißig Unternehmensgründer. Heute kämen aber nicht mehr so viele nach Deutschland. Anfang der 1990er Jahre seien es etwa 600 Russlanddeutsche im Jahr gewesen, die nach Essen kamen. Jetzt sind es etwa 30.

Am 24. Dezember 1991 kommt Otto Engel mit seiner Frau, zwei Kindern und seiner Mutter nach Essen. Endgültig. Sie wollten als Deutsche unter Deutschen sein, in einer alten und gleichzeitig neuen Heimat. In Russland seien sie fremd geblieben. Seien mehrmals vertrieben worden, haben immer wieder neu angefangen und gedacht: Wir passen dort nicht rein – im Pass die Nationalität deutsch. Wer das durchgemacht habe, bei dem bleibe im Kopf: „Wir sind hier nicht zu Hause“.

"Allein schaffe ich das nicht"

Im Forum basteln die Kinder oder spielen Gitarre. Evgenia Gorbatko (24) trifft Freunde im Jugendclub. Sie studiert Mathe und Russisch auf Lehramt. 2003 kam sie aus Kasachstan, hat wenig Deutsch gesprochen und fühlte sich an der Heßlerstraße gut aufgehoben. So wie Michael Mangazeev (37), der vor sieben Jahren aus Sibirien kam. Er steckt im Referendariat, wird Lehrer für Sport und Mathe. Im Verein bietet er Training an: Kanufahren und Wandern. Er habe gewusst: „Allein schaffe ich das nicht, mich zu integrieren.“

Den Schulbesuch schafft Otto Engel barfuß nur bis September. Im Ural ist die Kälte eisig. Erst ein Jahr später kommt er wieder zum Unterricht, als seine Mutter ihm ein Paar Gummigaloschen schenkt. Er geht dann später auch zur Handwerkerschule, wird Elektriker, darf arbeiten und studieren. Nur seine Brüder darf er nicht sehen. Selbst seit seine Mutter und er wissen, dass die beiden leben, in Velbert und Kettwig wohnen, sind lange Zeit nur Briefe möglich. „Als wir uns wiedersahen, waren sie alte Männer.“

Kurse sind für alle offen

Die Erwachsenen im Verein bieten Tanzunterricht oder Malkurse an. „Es sind gute Choreografen oder Pädagogen, die auch eine Chance bekommen, sich zu engagieren“, sagt Irina Karmann (42). Die Kurse seien für alle offen, so wie ihr Verein. Sie wollen sich nicht abschotten. In der Ukraine oder in Kasachstan seien sie oft die Deutschen gewesen, erzählt Otto Engel. In Deutschland sei es umgekehrt, manchmal hören sie: „Das sind doch die Russen.“ Das sei falsch: Sie seien Deutsche, die aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion kämen. Ihre Familien seien oft gemischt: Deutsche, Russen, Russlanddeutsche. „Sie wollen wir zusammenbringen“, hofft Marina Mirau (36).

Die Familie von Otto Engel kommt 1987 zusammen. Er reist mit seiner Mutter nach Deutschland. Ein Foto von dem Tag hängt im Flur an der Heßlerstraße. Zum ersten Mal trifft Lydia Engel alle drei Söhne nach dem Sommer 1942.