Kirchhellen.
Es ist dunkel, stickig und der Boden ist hart, obwohl er mit Stroh ausgelegt ist. Die 10-jährige Helga ist mit ihren fünf Geschwistern und Mutter Elisabeth und Tante Otielie im Viehwaggon aus Osterdorf, einer 800-Seelen Gemeinde in Oberschlesien, vertrieben worden.
Vater Josef Kluger war schon lange vermisst. Drei Wochen lang zieht sich die Zugfahrt aus dem von Polen eingenommen Dorf. Immer wieder hält der Zug, damit die vielen Menschen in den Auffangstationen essen und trinken können. Ob alle Vertriebenen wirklich etwas abbekommen, ist unsicher. Angekommen in Recklinghausen, wurden die acht zusammen mit fünf anderen Familien nach Kirchhellen gebracht.
Diese Ankunft ist nun 65 Jahre her. Die Geschwister feierten dieses Jubiläum auf dem Hof May mit einer der Familien, die sie damals aufgenommen hat. Aus der Not ist eine wunderbare Freundschaft entstanden, die die ganzen Jahre nicht abgeschwächt ist. „Alle meinen, wir wären verwandt“, so Gunter Kluger. „Wir gehören hier einfach inzwischen zum Inventar,“ zwinkert er.
Weil damals niemand eine achtköpfige Familie aufnehmen konnte, wurden die Geschwister getrennt und auf verschiedene Höfe verteilt. Annemarie und Ingeborg, 16 und elf Jahre alt, wurden zusammen mit Mutter und Tante auf dem Hof Fiele untergebracht. Die beiden kleinen Brüder Gunter und Franz auf den damaligen Hof Hasebrink. Helga selbst sollte mit ihrer 13-jährigen Schwester Edit auf dem Hof Kreienkamp wohnen, dem heutigen Hof May.
„Jeder Hof musste angeben, wie viele Leute er aufnehmen kann“, erinnert sich Elisabeth May. Obwohl die damals 24-jährige Elisabeth und ihre Eltern sich die 72 Quadratmeter schon mit Tante und dem Knecht Fink teilten, meldeten sie sich für zwei Mädchen. Ein bisschen Platz war da: „Bruder Bernhard war vermisst“, so die heute 88-Jährige. Die beiden Neuankömmlinge kamen bei der Tante im Zimmer unter.
„Wir wurden wie eigene Kinder behandelt,“ erinnert sich Helga. „Es war eine wunderschöne Zeit.“ So schön, dass sich der Hof mit der Zeit auch zum Treffpunkt für die Geschwister entwickelte. Die Kinder halfen neben der Schule bei der Ernte mit. „Sie nannten meine Eltern von Anfang an immer nur Onkel und Tante“, so Elisabeth. „Damals waren das Kinder für mich wegen des großen Altersunterschiedes. Dieser wurde mit der Zeit immer unerheblicher und jetzt nenne ich die beiden nur noch meine Halbschwestern.“
Und die Familie hatte noch mehr Glück: Neben der herzlichen Aufnahme kam 1949 Vater Josef aus der Gefangenschaft aus einem russischen Arbeitslager frei und zu der Familie nach Kirchhellen. Im Krieg hatte er Splitter in die Schulter bekommen. In Kirchhellen erlebte er noch zwei Mal das Vaterglück mit Johannes und Josef. Die Familie konnte zusammenziehen und bis auf die älteste Schwester leben alle Geschwister bis heute in Kirchhellen.