Essen. . Nicht erst seit der reanimierten Anti-AKW-Bewegung gilt „öko“ vielmehr als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls denn als Schimpfwort für Idealisten. Auch in Essen besinnen sich immer mehr Menschen auf einen bewussteres Leben. Eine grüne Spurensuche.
Öko - was vor gut 20 Jahren eher als Beleidigung für Birkenstock-tragende Vegetarier mit zotteligen Haaren verschrien war, gilt heute nicht erst seit den jüngsten
Wahlerfolgen der Grünen als massentauglich. Anti-AKW-Bewegung, Bio-Märkte, die wie (ökologisch angebaute) Pilze aus dem Boden sprießen, der Wechsel zu „grünem Strom“: Auch in Essen besinnen sich immer mehr Menschen auf einen bewussteren Lebensstil. Wie öko ist Essen? Eine grüne Spurensuche.
Nur mit Maissirup gesüßte Cornflakes haben sich im Regal zu dem „100 Prozent Arabica Schalke-Kaffee“ aus ökologischem Anbau gesellt. Ein paar Meter weiter verpacken Mitarbeiterinnen knallrote Äpfel, frischen Kopfsalat und Kartoffeln, die auf den klangvollen Namen „Ruhrgold“ hören, in grüne Kisten. Chef Christian Goerdt gönnt sich in der Zwischenzeit ein Körnerbrot mit Käse zum Mittag. Der Agrar-Ingenieur und Landwirt hat die Zeichen der Zeit früh erkannt: Vor 16 Jahren gründete er den Bio-Lieferservice „Flotte Karotte“. „Wir sind damals mit einem Computer, einem Drucker und einem Fiat Panda an den Start gegangen“, erinnert sich der 48-Jährige. Heute beschäftigt er 20 Mitarbeiter und plant, seinen Betrieb noch in diesem Jahr im Steeler Industriegebiet Breloher Steig um einen Neubau zu erweitern.
Mehr als 1000 Kunden beliefert das Bio-Team mittlerweile. Ein Großteil der Aufträge wird inzwischen über das Internet abgewickelt. Dort wählt man seine Wunschprodukte aus, „Flotte Karotte“ liefert die gesunden Kisten in einem Kühlwagen bis vor die Haustür - natürlich saisonspezifisch. Erdbeeren im Dezember? Das kommt bei Christian Goerdt nicht in Frage. Vor allem junge Familien, sagt er, setzen auf den Lieferservice. „Das geht meistens mit dem
ersten Kind los. Generell gilt aber, dass sich die Menschen wieder mehr gönnen.“ Denn die Qualität frei Haus hat ihren Preis. 15 Euro kostet eine gemischte Kiste, „davon kann eine vierköpfige Familie aber auch locker vier Gerichte kochen“, rechnet Coerdt vor. Auch Bio-Fleisch hat er im Angebot. Einen wahren Schub erlebte das Unternehmen beim jüngsten Dioxin-Skandal. “Die Leute haben es sprichwörtlich satt“, sagt Coerdt. Er kennt einen Großteil seiner liefernden Biobauern persönlich. Zudem beobachtet der Experte für Ökolebensmittel einen Trend hin zu fast vergessenen Gemüsesorten. Pastinaken statt Pizza? Viele Kunden würden das wohl unterschreiben.
Bewusstseinswandel im Kleiderschrank?
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Ortswechsel. Der Essener Süden ist traditionell grün, nicht nur äußerlich. Eine Boutique wie „The Earth Collection“ passt also recht gut an die Klarastraße, nur einen Steinwurf vom Rüttenscheider Markt entfernt. Als Franchise-Nehmer öffnete Klaus Ulrich den Laden Ende 2009. Der gelernte Elektroniker hatte gerade seinen Job verloren, stieß schließlich auf das
Konzept des in Bocholt beheimateten Modeunternehmens: Es garantiert nachhaltige Kleidung aus rein natürlichen Materialien wie Bio-Baumwolle. Zudem vertreibt Ulrich Hosen, T-Shirts und Pullover der Marke „Hemp Age“, die ausschließlich aus Hanf-Fasern genäht werden. „Hanf ist im
Gegensatz zu Baumwolle pflegeleichter und braucht nicht so viel Wasser im Anbau“, erklärt Ulrich. Auch er hat einen Bewusstseinswandel festgestellt: „Viele Kunden fragen nach, woher die Kleidung stammt und aus welchen Materialien sie hergestellt wird.“ Das „grüne Umdenken“ ist jedoch auch hier nicht ganz billig. 40 Euro kostet das Hanf-T-Shirt, die Hose aus dem gleichen Material gibt’s für 100 Euro.
Bei Essener Stadtwerken steht das Telefon seit der AKW-Katastrophe nicht still
Etwas billiger ist es da, seine Steckdose auf Grün zu trimmen. Bei den Essener Stadtwerken jedenfalls steht das Telefon seit der AKW-Katastrophe in Japan nicht still. „Allein in den vergangenen Tagen gingen mehr als 400 Anrufe bei uns ein. Viele wollen sich über ,grünen Strom’ und den Wechsel informieren“, sagt Sprecher Dirk Pomplun. Den beziehen die Stadtwerke aus Wasserkraftwerken in Norwegen. Pro Kilowattstunde koste der grüne Strom einen halben Cent mehr, was beim durchschnittlichen Verbrauch einer Familie etwa 15 Euro Mehrkosten pro Jahr bedeutet. Bei Mitbewerber RWE bleibt der riesige Boom auf die Biostrom-Angebote noch aus - wenngleich auch der Energieriese hundert Prozent Strom aus Wasserkraft anbietet, sogar aus dem benachbarten Werk in Mülheim. „Viele verbinden uns nach den Schlagzeilen der vergangenen Wochen immer mit Atomkraft - dabei macht sie nur 17 Prozent unseres Angebotes aus. 22 Prozent in unserem Stromnetz werden aus regenerativen Quellen gespeist“, sagt Klaus Schultebraucks, Sprecher der RWE-Vertrieb AG.
So oder so - vom grünen Bewusstseinswandel profitiert heute nicht nur die Anfang der 80er Jahre belächelte, gleichnamige Partei, sondern mittlerweile ein ganzer Industriezweig.