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Sie verstehen sich als „Anwälte der Gesundheit“ und behandeln Menschen, die durch alle sozialen Netze gefallen sind: Das Team vom Arztmobil um Dr. Hans Jürgen Pielsticker kümmert sich mit der rollenden Praxis vor allem um Obdachlose und Drogenabhängige.
Etwas hektisch geht die Frau auf das Arztmobil zu. „Ich brauche nur schnell ‘ne Überweisung für die Entgiftung“, sagt sie und wedelt mit ihrer Zigarette durch die Luft. Dr. Hans Jürgen Pielsticker bleibt gelassen. An das rastlose Verhalten seiner Patienten ist er gewöhnt, bei den meisten Drogenabhängigen ist es eine typische Begleiterscheinung. Seit zwei Jahren betreut der 58-Jährige das Arztmobil. Ein Großteil seiner Klientel kommt von der Straße. Pielsticker trägt keinen „weißen wehenden Kittel“, sondern zweckmäßige Kleidung. Die Hemmschwelle, ihn aufzusuchen, soll so gering wie möglich sein.
Vor gut 15 Jahren wurde die rollende Arztpraxis als Modellversuch bundesweit in mehreren Großstädten gestartet. Erst kürzlich bewilligten Krankenkassen, Ärzte- und kommunale Spitzenverbände die weitere Finanzierung des Projekts. „Darüber sind wir sehr glücklich“, sagt Pielsticker. Er hat schon viel Elend gesehen, war unter anderem für die Vereinten Nationen im Nahen Osten tätig. Für die Berufung zum „Arzt der Straße“ entschied er sich auch, „weil man unmittelbar unkomplizierte Hilfe leisten kann“.
Großteil der Patienten hat Suchtprobleme
Medizinische Hilfe braucht auch ein 38-Jähriger an diesem sonnigen Morgen dringend. Er ist erst das zweite Mal hier, an der Maxstraße, an dem das Mobil täglich um 9.45 Uhr Station macht. Vorher habe er sich nicht getraut, erzählt er. Zu groß war die Scham, seine unansehnlichen Wunden zu zeigen. Dicke Blutblasen haben sich an seinen Füßen gebildet, er kann kaum noch laufen. Den ganzen Tag sei er immer auf den Beinen, die Notschlafstelle in der Lichtstraße öffne erst abends. 17 Jahre saß der Mann im Gefängnis, seit September ist er obdachlos. Ob die Zukunft nach dem Knast eine rosige ist, bleibt abzuwarten. Ein paar Mal ist er wieder erwischt worden, „wegen Klauen und Schwarzfahren“. „Aber ich habe doch auch keine Kohle mehr, die haben sie mir in der Lichtstraße geklaut“, sagt er und zeigt wie zum Beweis auf die rote Beule an seinem Kopf. Die Hoffnung auf ein neues, besseres Leben gibt er dennoch nicht auf: Demnächst beginnt er mit seiner nächsten Substitution: In mindestens zehn Therapien hat er bereits versucht, vom Heroin loszukommen. Seit 20 Jahren hat ihn die Droge im Griff.
Es ist eine Geschichte, ein Schicksal von vielen. „Wir haben einen hohe Prozentsatz an Patienten, die einen drogenbestimmten Lebenslauf haben. Menschen, die durch das soziale Netz gefallen sind, Haftentlassene“, erklärt Arzthelferin Stephanie Löhr. Gemeinsam mit den beiden Ehrenamtlichen Margret Hahnekamp und Dorle Völkel komplettiert die 31-Jährige das Team um Dr. Pielsticker. Die rollende Praxis ist einzigartig in Deutschland und wurde speziell auf die Bedürfnisse abgestimmt. In Essen übernahm die Kruppstiftung die Kosten in Höhe von 67.000 Euro. Wie in einer „normalen“ Praxis stehen ihm Behandlungsmöglichkeiten eines Hausarztes zur Verfügung. Dr. Pielsticker schreibt Rezepte, stellt Überweisungen aus, sogar eine kleine Apotheke findet sich in dem Transporter.
Ausnahme von der Residenzpflicht
Für das Arztmobil gibt es eine Ausnahmeregelung, schließlich hat ein niedergelassener Hausarzt per Gesetz Residenzpflicht. Neben dem Sozialzentrum Maxstraße fährt das Team auch das Café Basis und die Lichtstraße an. Die Not kennt dabei kein Alter: „Vor allem im Café Basis, wo viele Streetkids sind, hat man neben der Behandlung doch immer die Hoffnung, die jungen Menschen noch auf den richtigen Weg zu bringen“, sagt Dr. Pielsticker. Ab und an wird er beschimpft, handgreiflich geworden ist noch nie jemand. Die Menschen sind eher dankbar, schließlich versteht sich das Team auch als ihr „Gesundheitsanwalt“.
Hin und wieder schickt Pielsticker die Menschen aber auch nach Hause. Hartz-IV-Empfänger etwa, die sich die zehn Euro Praxisgebühr sparen wollen. Für sie ist die rollende Praxis nämlich nicht gedacht. Ziel ist es, die Menschen in das Regelsystem zu integrieren. Das ist nicht immer einfach: Verloren gegangene Rezepte, nicht wahrgenommene Termine - doch Pielsticker ist geduldig. Er weiß, wie die Menschen, die „Platte machen“, ticken. „Der kriecht einem nicht in den Hintern, sondern sagt auch mal was Sache ist. Deswegen kann ich den gut leiden“, sagt einer seiner Patienten.