Essen. Mehr denn je müht sich Essen um Werber, Designer, Medienmacher und Künstler – die Kreativwirtschaft boomt. Mit Werbung und Design, Kunst und Medien, Musik und Architektur setzen knapp 2800 Essener Unternehmen mittlerweile mehr als 4,1 Milliarden Euro jährlich um.

Man kann es natürlich auch so machen wie Dieter Walter Liedtke. Der nimmermüde Essener (Lebens-)Künstler, dem die Welt das Konstruktionspatent des Selbsthaarschneiders verdankt und die endlos plappernden Videobänder im Baumarkt, mietete sich eines schönen Tages ein Ladenlokal in Rüttenscheid und verkündete, er werde hier fortan „Erfindungen aller Art" ausbrüten.

So.

Die Sache wurde, man ahnt es schon, ein ziemlicher Flop, denn wer auf Bestellung kreativ sein will, braucht vielleicht mehr als nur guten Willen und ein Telefon für die Auftragsannahme. Dabei ist die so genannte Kreativwirtschaft ziemlich im Kommen: Mit Werbung und Design, Kunst und Medien, Musik und Architektur setzen knapp 2800 Essener Unternehmen mittlerweile mehr als 4,1 Milliarden Euro jährlich um. Gut 17.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zählt man in der Stadt, eine irreführende Zahl, weil die Branche immens viele Freiberufler zählt.

Schmückende Farbtupfer der Stadt

Dabei gelten Kreative (erst recht in der Kulturhauptstadt Europas 2010) nicht nur als Wirtschaftsfaktor, sondern zugleich als schmückende Farbtupfer einer Stadt, die immer noch gegen ihr Image als graue Maus anzukämpfen hat. Wie das aussehen kann, wenn Kreative einen Stadtteil erobern, konnte und kann man in Berlin und München, Hamburg und Köln erkennen, kein Wunder also, dass nicht nur Essen, sondern mittlerweile auch andere Städte an Rhein und Ruhr formulieren: Das wollen wir auch. Und deshalb treiben sie alle die Idee von „Kreativquartieren" voran.

Gefragt: Räume, die nicht von der Stange kommen

Was das ist? Jedenfalls mehr als zehn Büros für „Erfindungen aller Art" nebeneinander. Orte, die Atmosphäre haben, aber noch nicht ökonomisch ausgeschlachtet wurden. Gerne Brachgelände, altes abgefahrenes Industrieareal. Treffpunkte für eine Szene von Gleichgesinnten, wo Kunst, Kultur und Wirtschaft mit Multikulti und alternativen Lebenseinstellungen verschmelzen. Kreative: Schwarze Rollkragenpullis und Second-hand-Klamotten, literweise geschlürfter Latte macchiato und cool abhängen, pardon: „chillen" im Club, schräge Künstler, Musiker, belesene Tagediebe? Ja doch, aber eben auch dies: Designer mit guten Aufträgen aus der Industrie, Software-Bastler, Event-Gestalter, Fototeams, Medienbüros, Beschallungstechniker...

In Zahlen

Kreative Branchen

  • Architektur: 839 Firmen, 5552 sozialversicherungspflichtige Jobs, 559,7 Millionen Euro Umsatz
  • Darstellende Kunst: 76 Firmen, 1118 Jobs, 15 Mio. Euro Design: 178 Firmen, 101 Jobs, 22,8 Mio. Euro
  • Film + Fotografie: 244 Firmen, 641 Jobs, 95 Mio. Euro
  • Presse + Verlagswesen: 523 Firmen, 4737 Beschäftigte, 2398,1 Mio. Euro
  • Software/Games: 268 Firmen, 3219 Jobs, 560 Mio. Euro Werbung: 512 Firmen, 1393 Jobs, 367,5 Mio. Euro
  • Musik: 104 Firmen, 105 Jobs, 28,6 Mio. Euro

„Kreative neigen zur Häufchenbildung", sagt Michael Gehlert von der Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft (EWG) und sie siedeln sich gern im Umfeld großer Konzerne an, denn von deren Aufträgen leben viele. Dabei lassen sich die so Umworbenen nicht jeden x-beliebigen Standort der Stadt als „ihren" Tummelplatz andrehen. „Gestern hatte ich noch einen Logistik-Standort, heute mach' ich daraus mal ein Kreativ-Quartier – so funktioniert das nicht", sagt Gehlert.

Denn nicht die Standorte erobern die Kreativen – umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Kreativen erobern sich ihre Standorte, das kleine „Ku 28" etwa am Kupferdreher Ufer des Baldeneysees, den alten Kettwiger Bahnhof oder die einstigen Zechenstandorte Bonifacius oder Ludwig (um nicht gleich mit Zollverein zu kommen).

Was die Branche dort hinzieht?

„Das Bauwerk ist das Wichtigste", sagt Robert Urban von der Deutschen Bauentwicklung GmbH, die den Gewerbepark Ludwig unter ihren Fittichen hat: „Gefragt sind Räume, die nicht von der Stange kommen, die eine Identität geben." Auf dem Areal der einstigen Zeche Ludwig macht's die historische Bausubstanz eines Backsteinbaus aus den 1920er Jahren. Und auch Roland Weiss von der Stiftung Zollverein beteuert: Was an altem Baubestand auf der Zeche zu vermieten ist, wurde auch zu 100 Prozent vermietet: „Hätten wir doppelt so viele Flächen, wären die auch voll. ,Warum wollen die alle in die alten Dinger?', könnte man fragen. Es geht aber nicht nur um die Frage des Alters. Dieser Trend wirft andere Frage aufwerfen: Warum bauen wir heute nicht so, dass Kreative sich dort wohlfühlen? Das ist ein Appell an Investoren und Architekten."

Dabei gibt Weiss zu, dass Zollverein eine Sonderstellung einnimmt: Von Beginn an geplant als Design-Standort der Extraklasse war das Weltkulturerbe „sehr hoch positioniert": „Zollverein hatte keine Kindheit, keine Eroberungsphase", formuliert Weiss, das möge Vorteile gehabt haben, ging aber zum Teil auch nach hinten los: Das „Anarchische" der kreativen Szene, sich einen Standort, ein Quartier zu besetzen, hat es auf Zollverein nie gegeben, „diese Entwicklung hat vielleicht auch einiges verhindert". Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund haben die Verantwortlichen dort auch darauf geachtet, nicht mit einem allzu engen Profil Interessenten zu verschrecken.

Nicht auf Kreativwirtschaft versteifen

Auch Robert Urban warnt davor, sich nur auf die Kreativwirtschaft zu versteifen: „Das birgt eine Gefahr, weil die Fluktuation dort recht hoch ist." Darum finden bei ihm auch Berater, Wirtschaftsprüfer und ganz normale Büroanbieter Platz: „Wir wollen bei wirtschaftliche Schwankungen nicht so anfällig sein." Immerhin, „Leerstände" füllen sich schnell wieder, sagt Zollverein-Mann Weiss und bricht eine Lanze dafür, Kreativen nicht die branchenüblichen Verträge für zehn und mehr Jahre abzuverlangen: Viele von denen wissen ja nicht mal, ob sie in drei Jahren noch da sind!"

Auch Dieter Walter Liedtke zog es nach seinen Essener Jahren einst fort nach Mallorca und lebte dort in einem spektakulären Bau als „el loco del roca", der Verrückte vom Felsen. Wer Liedtkes gescheitertes Essener Art open-Spektakel von 1999 kennt, weiß, wie sie das meinen.

Typisch Kreative. Die Kreativen im Fokus: Wirtschaftsförderer allerorten erkennen in der Branche einen wachsenden Wirtschaftsfaktor. Foto: Frank Vinken Michael Gehlert von der Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft Roland Weiss von der Stiftung Zollverein