Essen. .
Eine Fahrt mit der Kulturlinie 107, die die Menschen von Bredeney an Sehenswürdigkeiten vorbei bis nach Katernberg bringt. Wir haben nachgehorcht, was die Fahrgäste über das ausgehende Jahr 2010 denken und was sie bewegt.
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Es soll Leute geben, die behaupten, zwischen Bredeney und Katernberg liegen Welten. Tatsächlich sind es nur ein paar Kilometer. Die Straßenbahnlinie 107 legt diese Strecke zurück. Der Weg führt vorbei an Museen, Theatern und Kirchen, am Weltkulterbe Zollverein, an sehenswerter Architektur und an weniger schönen Fassaden. Fahrgäste erleben die Kulturhauptstadt ungeschminkt, so wie sie ist. Bitte einsteigen!
„Essen ist viel sauberer geworden“
Nächster Halt Alfredusbad. Das Kulturhauptstadtmärchen geht weiter. Susanne Hoffmann hat das Jahr genutzt, um ihre Stadt ganz neu kennenzulernen. Nicht mit der Linie 107. Mit dem Fahrrad, „auf den vielen neuen Radwegen, die es jetzt gibt“: auf der Wasserroute am Rhein-Herne-Kanal entlang zum Nordsternpark und nach Zollverein. Toll. Nicht nur das.„Zum Stillleben auf der A40 hatten wir Besuch aus Süddeutschland. Unsere Gäste waren total begeistert. Wir waren an jedem Tisch willkommen. Das hatten sie nicht erwartet.“
Susanne Hoffmann wünscht sich, dass die Begeisterung, die sie selbst empfindet über das Jahr hinaus trägt. Wie? „Die Stadt sollte Kindern freien Eintritt gewähren, zu Museen und zu allen anderen Kultureinrichtungen.“ Das wäre nachhaltig. Das Aalto-Theater, die Philharmonie, das Museum Folkwang - nichts davon ist zu sehen aus der Bahn, die Kulturlinie taucht ab in den Untergrund.
Was von Ruhr.2010 blieb
Stergios Tsitsis fährt die Strecke zum x-ten Mal. Der gebürtige Grieche ist Fahrzeugbegleiter bei der Evag. Das Kulturhauptstadtjahr hat ihm den Ein-Euro-Job beschert. Früher hat er auf dem Bau malocht, bis die Knie nicht mehr konnten. „Was willst Du machen? Hauptsache gesund.“
Stergios Tsitsis staunt über die vielen Touristen in der 107. Heute sieht niemand aus wie ein Tourist. „Aber erst gestern war wieder eine ganze Gruppe Engländer da. Die wollten nach Zollverein. Klar.“ Tsitsis wohnt seit 40 Jahren in Deutschland. Welche Eindrücke er mitnimmt aus dem Kulturhauptstadtjahr? „Essen ist viel sauberer geworden. Hoffentlich bleibt das so.“
Hauptbahnhof, Rathaus, die Bahn leert sich, neue Fahrgäste steigen zu. Am Fenster sitzt ein älterer Herr, den dunklen Hut tief in die Stirn gezogen. Edgar Pell kommt aus Kasachstan. Mit seiner Frau wohnt er ganz in der Nähe von Zollverein. Vor zwölf Jahren ist das Paar nach Essen gezogen. Edgar Pell erzählt von seiner schweren Kindheit, von seinen Eltern, die im Lager waren. Die Augen hinter der Brille werden feucht. Der 71-jährige sucht nach Worten. Von seiner Enkelin habe er Deutsch gelernt. Und von Jürgen Fliege, dem Fernsehpfarrer. Und von Kanzler Gerhard Schröder. „Die sprechen so schön deutlich.“ Was er über das Kulturhauptstadtjahr denkt? „Wir haben Zollverein besucht. Zum Glück gibt es da die große Rolltreppe.“ Seine Frau hat Zucker, kann schlecht gehen. „Die Aussicht von da oben war sehr schön.“ Draußen verschwindet die wunderschöne Nikolauskirche aus dem Blickfeld. Edgar Pell sieht sie nicht.
„Schön, aber anders“
Luise Sörensen steigt zu. Die 14-jährige lebt erst seit einem halben Jahr in der Kulturhauptstadt und ist noch auf Entdeckungsreise. „Vorher haben wir in Salzburg gewohnt“, erzählt sie. Salzburg! Mozart, eine ganze Stadt ein einziges Weltkulturerbe! Als der Doppelbock im Fenster auftaucht, schmilzt Zollverein plötzlich auf Miniaturformat zusammen. Luise Sörensen wohnt in Katernberg. Was macht sie in Essen? „Mein Vater ist Schauspieler am Grillo.“ Und wie gefällt es ihr? „Hier ist auch schön“, sagt sie. „Aber anders schön.“
Die 107 hält vor dem Ehrenhof. Schüler steigen ein. „Mein Vater hat früher auf Zollverein gearbeitet“, erzählt Erhan Öztürk. Furhan Uzun nickt. Auch sein Großvater ist auf der Zeche eingefahren. „Das ist superspannend, wenn er davon erzählt.“ Mit dem Weltkulturerbe können die beiden Jugendlichen dagegen nicht viel anfangen. Dass Zollverein heute Touristen anlockt - die 16-Jährigen können sich nur wundern.
„Sogar der Dieter Bohlen war schon da.“ Und ganz viele Chinesen. „Immer wenn ich die sehe, frage ich mich, was wollen die da“, sagt Erhan. Ob die Chinesen genauso über die vielen deutschen Touristen an der chinesischen Mauer denken? Keine Zeit, darüber nachzudenken. Die beiden müssen aussteigen.
In Katernberg steigt Ulrich Eberhard von der Linden mit seiner Gitarre ein. Aus einem Einkaufsbeutel zieht er eine halbvolle Flasche Wein. „Hab’ Weihnachtslieder einstudiert, vielleicht verdiene ich ein paar Euro. Aber bei der Kälte frieren einem ja die Finger ab.“ Was ihm zur Kulturhauptstadt einfällt? Er will zum Hauptbahnhof, zur Bahnhofsmission. „Der Bahnhof hat sich ja ganz schön verändert.“ In 20 Minuten sitzt er im Warmen.