Essen. .
Staustadt Essen? DerWesten hat’s ausprobiert: Acht Stunden Meter für Meter durch die Metropole. Geschichten von Schreihälsen, Gasgebern und Eingekreisten.
35 Minuten gefahren, nicht einmal zwei Kilometer weit gekommen. Zum Verzweifeln. Lisa kramt den Eyeliner aus dem Handschuhfach. Wieder einmal Stau und genug Zeit zum Nachschminken. Stoßstange an Stoßstange quälen sich Autos und Laster auf zwei Spuren die Ruhrallee hinauf. Die A 44 hatte sie mit viel Schwung im Rücken bei Kupferdreh ausgespuckt. Lisas blauer Fiat Punto verfing sich um 8.07 Uhr an der ersten Ampel vor Rellinghausen. Willkommen in der Staustadt Essen.
Im Stau gibt Lisa viel von sich preis. Sie wohnt in Düsseldorf. Der Punto ist „sponsored by Papa“. Lisa liebt Pur-Musik und Diddl-Mäuse. Die junge Frau (Jahrgang 1986) liest gerade Dan Brown und ein Buch über das Ruhrgebiet: Falk, Maßstab 1 zu 16 000. Das alles verraten Aufkleber, Nummernschild und Innenraumgestaltung über Lisa. Den Rest kreischt sie mit ihrer piepsigen Stimme durchs heruntergekurbelte Fenster. Sie arbeitet bei Eon, kommt aber eigentlich aus Bayern. Ob sie Essen mag? „Na ja…“ Und der Stau? „Grausam!“
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Warum die Autos wieder feststecken, kann sie kaum verstehen. Die baustellenreichen Ferien sind vorbei, die Behelfsampeln abgebaut. Lisa hat da eine Vermutung: „Vielleicht wieder der von UPS…“ Paketboten blockieren oft zum Ausladen die rechte Spur. Grund genug für einen kilometerlangen Stau. „Ich hab…“ Lisas Stimme geht in einem lauten Zischen unter. Ein Lkw schiebt sich vor ihr Autofenster.
Gas geben. Kupplung kommen lassen. Kupplung treten. Bremsen. Immer wieder. Es geht Meter um Meter vorwärts, vorbei am Eon-Ruhrgas-Gebäude. 8.21 Uhr mittlerweile. Rechts steht ein Lieferwagen mit leuchtenden Warnblinkern. Der Fahrer sucht etwas im Kofferraum. Die Motorhaube ist geöffnet. Sieht nach Panne aus. Die Autos von der rechten Spur müssen sich nach links einfädeln. „Ey, Reißverschluss!“, brüllt ein Krawattenträger aus dem Fenster. Das funktioniert hier nicht. Ein Mercedes drängt mit aller Gewalt zwischen einen Toyota und einen Opel. Millimetersache, dass es nicht kracht. Der Fahrer sieht aus wie der fahrende Siegfried, der gerade den Stau-Drachen besiegt hat. Schweiß steht auf der rot angelaufenen Stirn. Was für ein Morgen.
Eigentlich ist heute kein Stautag. Die Sonne scheint, keine Hitze, kein Frost. Stau gibt’s vor allem bei Regen, sagen Experten. Dann werden die Leute hektisch. „Nachmittags wiederkommen, wenn du Stau willst“, rät der Tankwart im Westviertel und lacht. Er muss es wissen, blickt er doch direkt auf die B 224.
Verloren in Essen
Sieben Stunden später. 15.56 Uhr. Jetzt ist überall Stau. Stop and Go auf B 224, B 227, A 40 und A 52. Auf halbem Weg zwischen Folkwang-Museum und Philharmonie hat gerade die motorisierte Götterdämmerung ihren Höhepunkt erreicht. Hunderte Autos mischen sich an der Kreuzung von Hohenzollernstraße, Bismarckstraße und Friedrichstraße. Letztere müsste doppelt so breit sein, um alle Fahrzeuge aufzunehmen. Die Ampel zeigt Grün, trotzdem geht nichts. Die Kreuzung ist blockiert. Hupen: Tuuut. Möööp. Beeep.
Grünphasenwechsel: Ein roter Volvo aus Wesel steht noch mitten auf der Kreuzung. Die anderen hätten die Frau fahren lassen können. Haben sie aber nicht. Jetzt ist sie rundherum von Autos umgeben, hält verkrampft das Lenkrad fest. Ihre Augen scannen unsicher die Umgebung ab. Verloren in Essen. Stau auch auf der B 224 Richtung Norden. Hier geht’s nur noch im Schneckentempo Richtung Gladbeck. Genug Zeit, um am Kirmesplatz die Prostituierte zu beobachten. Sie zupft sich die durchsichtigen Strümpfe zurecht, telefoniert. Mit einem Freier? Von hinten hupt’s. Bloß nicht die Grünphase verpassen!
Gas geben. Kupplung kommen lassen. Kupplung treten. Bremsen. Immer wieder. Am Heck des Lieferwagens steht eine Handynummer. Anruf: 0173/… Es meldet sich Fliesenleger Burim. „Ja, scheiß Stau.“ Sagt er und schimpft auf die Stadt. „Scheiß Rathaus. Machen nix. Immer Stau.“
Jeder Fahrer hat so seine Art, mit dem Stau umzugehen. Im A-Klasse-Mercedes gestikuliert eine Mittvierzigerin wild herum. In ihrem Ohr steckt ein blau leuchtendes etwas. Es ist die Freisprech-Anlage. Sie telefoniert. Der Mann im Polo dahinter hat nur Augen für sein Navi. Er scheint fremd hier zu sein. Das Hamburger Auto hat einen Strichcode neben dem Nummernschild. Wahrscheinlich ein Mietwagen.
Stau auch in Werden (einspurig), Freisenbruch (Umleitung überlastet), in Rüttenscheid (Unfall auf der Kreuzung) und an der A 52 in Frillendorf (zu viel los). Zur Krönung noch 30 Minuten Königsdisziplin: drei Kilometer auf der A 40. Zwischen Essen-Zentrum und Holsterhausen geht fast nichts mehr. Die Ampeln der Zuflussregelung springen parallel um: Rot. Gelb. Grün. Links rückt Ursula Schimanski („Nenn’ mich Uschi“) immer einen Platz mit nach vorne. „Ist doch immer so“, sagt sie durchs Fenster. Die Ampel springt auf Grün. Uschi gibt Gas wie der Namensvetter und Tatort-Kommissar aus Duisburg. Ab nach Hause. Ab nach Mülheim. 50 Meter weiter steht sie schon wieder.
17.32 Uhr: Auch vor dem Eon-Neubau in Rüttenscheid kommt die Blechlawine ins Stocken. Hier wird Lisa demnächst arbeiten. Niederschmetternde Prognose: Zentimeterarbeit auf dem Weg zurück nach Düsseldorf. Zeit genug zum Abschminken.