Essen. Vor 50 Jahren stellte Berthold Beitz die Neubaupläne für das Krupp-Krankenhaus vor. Fast komplett geopfert wurde dafür die Siedlung Altenhof I.
Genau 50 Jahre ist es her, als Berthold Beitz im Frühjahr 1974 in der Villa Hügel der Öffentlichkeit das Modell für den Neubau des Krupp-Krankenhauses in Rüttenscheid vorstellte. Mit dem siebengeschossigen Bettenhaus will der Vorsitzende der Krupp-Stiftung Maßstäbe setzen in Sachen Funktionalität und Modernität. Und wie es dem damaligen Zeitgeist entspricht, hieß das auch: Wenn Neues kommt, muss Altes weichen, und zwar gründlich und ohne Sentimentalität. Hier traf es die historische Krupp-Siedlung Altenhof I, die bis auf wenige Reste niedergerissen wurde. Aus heutiger Sicht ein bedauerlicher Fehler.
Bereits im Jahr 1968, als die Neubaupläne sich schon abzeichneten, hatte Krupp schrittweise mit der Entmietung und dem Abriss der rund 220 Häuser begonnen. Und vielleicht geschah dies nicht zufällig kurz nach dem Tod des letzten Alleininhabers Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, dem Traditionen stärker am Herzen lagen als seinem forscheren Generalbevollmächtigten.
Werksrentner konnten im Altenhof kostenfrei und lebenslang wohnen
Es war Alfrieds Großvater Friedrich Alfred Krupp, den den Altenhof einst hatte bauen lassen. Entstanden zwischen 1893 und 1907, galt die Siedlung mit ihren kleinen Häuschen und der betont idyllischen Gesamtanlage unter den sozialen Errungenschaften des Unternehmens als besondere Tat. Werksrentner konnten hier mit ihren Frauen kostenfrei lebenslang wohnen, Hausgärten boten Raum für Erholung und die Möglichkeit, durch Eigenanbau den Speiseplan zu bereichern.
Der im Baubüro der Firma Krupp damals beliebte Cottage-Stil domininierte die Architektursprache. Viele Häuser besaßen sichtbares Fachwerk, kleine Türmchen, Walmdächer und Veranden. Vorbild ist die englische Gartenstadt-Bewegung, von deren menschenfreundlichen Grundsätzen man sich in vielen Kruppschen Werkssiedlungen anregen ließ und die im Altenhof bis in die Details Vorbild war.
Krupp baute immer wertig, leistete sich im Altenhof aber besonders aufwendige Vielfalt
Wertig und solide zu bauen, war bei Krupp immer Programm, im Altenhof aber leistete man sich außerdem eine besonders aufwendige Vielfalt. Es gab zehn verschiedene Haustypen, auf serielle Bauweise und eintönige Stichstraßen, wie sie in vielen Arbeitersiedlungen üblich waren, wurde konsequent verzichtet. Stattdessen gab es gewundene Wege und viele geradezu malerische Winkel, kleine Plätze und Grünanlagen. Es ist nicht übertrieben, den Altenhof als kleinen Bruder der Margarethenhöhe zu bezeichnen.
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Und beim reinen Wohnen blieb es nicht. Im noch dünn besiedelten Rüttenscheider Süden entstand um 1910 ein kleiner Sozial-Kosmos. Starb ein Ehepartner im Altenhof, mussten Witwe oder Witwer zwar ihr eigenes Haus aufgeben, konnten aber in eines der so genannten Pfründnerhäuser wechseln. Ferner gab es Wohnhöfe, in denen Witwen und Witwer getrennt nach Geschlechtern leben konnten und versorgt wurden. Sie können als eine Art Vorläufer heutiger Wohngemeinschaften gelten.
Nach und nach baute das Unternehmen außerdem ingesamt 22 Erholungshäuser für erkrankte Kruppianer. Hinzu kam das „Arnoldhaus“, ein Entbindungshaus für Schwangere, das den Namen eines früh verstorbenen Sohnes von Bertha und Gustav Krupp erhielt. Das eigentliche Krupp-Krankenhaus verbleib zunächst in der Nähe der Fabriken in der heutigen Weststadt, zog später aber ebenfalls an den Altenhof.
Damit nicht genug: Auf der anderen Seite eines kleinen Tales, durch das heute die Autobahn A 52 führt, entstand zwischen 1907 und 1914 der Altenhof II, der noch bis in die 1930er Jahre hinein erweitert wurde und im wesentlichen erhalten blieb. Im Baustil etwas nüchterner und die Häuser gedrängter angeordnet, steht diese Siedlung seit einigen Jahrzehnten unter Denkmalschutz. In dem Tal, das heute nicht nur wegen der Autobahn unzugänglich ist, existieren außerdem noch einige Reste des alten Kruppschen Waldparks, der als grüne Verbindung zwischen beiden Siedlungsteilen diente.
Wenn auch etliche Altenhof-Häuser durch Bomben zerstört oder schwer beschädigt wurden, überstand das Gesamtareal doch geschlossen den Zweiten Weltkrieg und wurde auf dringenden Wunsch von Bertha Krupp sogar bevorzugt wieder aufgebaut. Zum Verhängnis wurde dem Altenhof dann aber die spätestens in den frühen 1960er Jahren einsetzende Abrisswut, die in ihrer Tabula-Rasa-Mentalität oft weit über das unabdingbar Nötige hinaus ging.
Teilabriss des Altenhof I hätte für die Bedürfnisse des neuen Krankenhauses ausgereicht
Zweifellos war ein Neubau des Krupp-Krankenhaus erforderlich, um Anschluss an den medizinischen Fortschritt zu halten. Doch hätte dafür weniger als die Hälfte der Fläche des Altenhof I völlig ausgereicht, selbst wenn man noch Parkplätze dazu zählt. Da Krupp aber das Wohnen dort generell als nicht mehr zeitgemäß empfand und den Wert der Häuser auch wegen des bescheidenen Vorkriegsstandards als gering erachtete, musste die Siedlung weg.
Bis in die 1990er Jahre, als abschnittsweise moderne Wohnhäuser entstanden, lagen große Teile des Altenhof I-Geländes schlicht brach. Bis heute gibt es entlang der Ursulastraße und der Wittekindstraße unbebaute Flächen, auf denen genauso gut noch jene kleinen Häuser stehen könnten, die angeblich im Wege standen.
Sieht man ab von dem Siedlungsteil am Gußmannplatz, der einen anderen Charakter hat, haben von den Altenhof I-Häusern ganze drei überlebt, zwei Doppelhäuser und ein Einzelhaus. Vermutlich hatten sich ihre Bewohner hartnäckig geweigert sie zu verlassen. Irgendwann verlor Krupp dann das Interesse, und da sich ein Abriss wohl nicht mehr würde durchsetzen lassen, verkaufte man die Häuser an die Mieter. Die neuen Eigentümer bewiesen dann, dass Modernisierungen und behutsame Anbauten durchaus möglich gewesen wären, wenn man es denn gewollt hätte.
Die Bewohner verließen ihre Wohnidyllen oft nur sehr ungern und voller Trauer
Anders als Krupp es der Öffentlichkeit suggerierte, verließen die Bewohner ihre grünen Idyllen nur sehr ungern. „Was ihnen hier verloren geht, kann ihnen auch Wohnkomfort in einem Neubau nicht ersetzen“, schrieb der Essener Journalist und kritische Beobachter Hans G. Kösters im April 1974 in einer Reportage.
Kösters zitiert den 67-jährigen Otto Wirtz, der ein Leben lang bei Krupp als Schmied gearbeitet hatte: „Ich möchte in keinen Bienenstock, ich möchte wieder ein Haus im Grünen, wo ich werkeln kann.“ Ein Wunsch, der wahrscheinlich nicht in Erfüllung ging. Für seine Frau Elisabeth gerieten die jahrelangen Abrissarbeiten zur Tortur: „Jedes Mal, wenn wieder ein Haus fiel, war ich tagelang magenkrank.“
Umdenken kam erst Ende der 1970er Jahre - zu spät für den Altenhof I
Während Krupp sich anfangs bemühte, Häuser nur dann abzureißen, wenn ihre Bewohner verstarben, ließ sich derlei Rücksicht später nicht mehr durchhalten. Von Protestaktionen ist dennoch nichts überliefert. Kruppianer waren in der Regel den Entscheidungen des Unternehmens treu ergeben, generell war der Zeitgeist ausgesprochen abrissfreudig. Erst gegen Ende der 1970er Jahre kam das Umdenken in Gang, der Wert der alten Arbeitersiedlungen wurde langsam erkannt. Überall im Ruhrgebiet bildeten sich Bürgerinitiativen, die sich gegen den Abriss stemmten - oft sogar mit Erfolg. Doch für den Altenhof I kam das zu spät.
Immerhin, die Essener erhielten ein hochmodernes Krankenhaus, das die auf 22 Standorte verteilten Krupp-Krankenanstalten an einem Standort vereinte. Die werkseigene Einrichtung war 1870 gegründet worden und lange zunächst Kruppianern vorbehalten, stand aber seit den 1920er Jahren allen Essenern zur Verfügung. In den 1960er Jahren, als Krupp in eine wirtschaftliche Krise geriet, wurde Schließung bzw. Verkauf des Krankenhauses konkret erwogen. Berthold Beitz machte dem durch die kühne Neuplanung ein Ende.
Mit 542 Betten und 45.000 Quadratmeter Nutzfläche entstand ein für die damalige Zeit großes Krankenhaus, Logistik und Arbeitsabläufe sollten den neuesten Erkenntnissen entsprechen, versprach Beitz. Standard für Patienten sollte das Zweibettzimmer werden, auch dies noch keineswegs üblich in einer Zeit, in der es noch viele „Krankensäle“ gab.
Renommierte Architekten und Designer schufen das neue Krankenhaus
Die Kosten für den Neubau in Höhe von 80 Millionen D-Mark trug gemäß des Krankenhausgesetzes das Land NRW, die Krupp-Stiftung brachte das Grundstück ein und würde laut Stiftungschef Beitz Zuschüsse zum laufenden Betrieb leisten. Wie immer strebte man bei Krupp das Besondere an. Berthold Beitz verpflichtete renommierte Krankenhaus-Architekten und den berühmten Grafikdesigner Otl Aicher, der das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele in München verantwortete. Aicher schuf im neuen Krankenhaus das „Corporate Design“, die luftige Gestaltung der Innenräume und die moderne Wegweisung.
Das Schicksal der Siedlung Altenhof I fand keine Erwähnung in den Zeitungsberichten vor 50 Jahren. Der Abriss wurde vereinzelt bedauert, spielte aber in den kommunalpolitischen Debatten keine große Rolle. Neben den erwähnten drei Wohnhäusern blieben die Pfründnerhäuser teilweise vom Abriss verschont, sie werden heute von Abteilungen des Krupp-Krankenhauses genutzt. Und auch eine der zwei kleinen Kirchen des Altenhofs - die evangelische - blieb erhalten. Sie dient heute als ökumenische Krankenhaus-Kapelle.
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