Essen. Es war Notunterkunft, später Essener Vorzeigeprojekt, nun Heimat: Das Quartier Litterode soll Neubauten weichen. Ein Drama für viele.
Die Menschen im Quartier haben einfach Angst: Einst haben ihre Väter die Siedlung gerettet, jetzt sollen die noch verbliebenen rund 60 Bewohner ihr Zuhause verlieren. Die Häuser in Leithe rund um die Straße Litterode sollen abgerissen werden, weil der Allbau eine Neubausiedlung plant. Als der Abriss der damaligen Notunterkunft bereits in den 1980ern drohte, haben alle angepackt, sind anschließend zu Mietern geworden. Entstanden sind nicht nur eine sanierte Siedlung und ein Vorzeigeprojekt der Stadt, sondern vor allem eine Gemeinschaft. Diese droht nun auseinandergerissen zu werden.
„Ich lebe seit 50 Jahren hier mit meiner Familie“, berichtet Roswitha Weng (62), die heute gleich gegenüber von ihrem Sohn und den vier Enkelkindern wohnt. Ihre Tochter lebe gleich um die Ecke. Damals sind die Eltern von Roswitha Weng mit neun Kindern in die Obdachlosensiedlung gezogen. Inzwischen ist die ehemalige Altenpflegerin Rentnerin, gesundheitlich angeschlagen und voller Sorge. „Was soll ich denn in Katernberg“, fragt sie mit brüchiger Stimme. „Hier achtet jeder auf jeden, ich kann bei jedem klingeln“, berichtet sie von dem außergewöhnlichen Zusammenhalt, der über die Generationen gewachsen ist.
Die Bewohner helfen sich gegenseitig, sind füreinander da, treffen sich in ihren Gärten und „reichen Kochpötte aus den Fenstern“, wenn das Essen auch für den Nachbarn reicht. Ihre Vorgärten sind mit Deko wie Schafen und Zwergen geschmückt, hinter den Häusern haben sie Gartenmöbel und Spielgeräte für die Kinder aufgestellt, dort trocknen sie ihre Wäsche und grillen nach Feierabend oder an den Wocheneden gemeinsam. Sie organisieren Straßenfeste oder Halloweenpartys für die Mädchen und Jungen, teilen auch Sorgen, Nöte und manch freudiges Ereignis. Einige wie Jörg Abele sind in der Leither Siedlung geboren, andere wie Dirk Bolduan, seine Schwester, sein Bruder und der Neffe leben wie Familie Weng seit Jahrzehnten an der Litterode oder Rudolfstraße.
Der Allbau hat die Siedlung im Vorjahr von der Stadt übernommen, die bereits seit Jahren frei werdenden Wohnraum nicht nachvermietet hat. Viele Häuser stehen bereits leer. Geblieben sind 19 Parteien, es sind etwa 60 Mieter. Die Sanierung der noch bewohnten Häuser hat der Allbau inzwischen als unwirtschaftlich eingestuft, stattdessen sollen doppelt so viele Einheiten nach neustem energetischen Standard entstehen, hat Allbau-Chef Dirk Miklikowski angekündigt. Als städtische Wohnungsgesellschaft habe man die Verantwortung, guten, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Für die Mieter hat das zur Folge, dass sie seit Jahren Verfall und Verdrängung erleben und dass ihre Litterode schon stellenweise zur Geistersiedlung geworden ist. „Lost Place“, ruft ein Bewohner, als sie sich alle draußen versammelt haben, um von ihrer Geschichte, ihrer Wut und ihren Ängsten zu berichten, nachdem sie erfahren haben, dass sie alle ausziehen sollen. Ein Großteil der Doppelhäuser steht bereits seit Jahren leer. Die Grünflächen dort sind gerodet, die Bauten geräumt, drumherum stehen Bauzäune, vor den Häusern liegen Bretterhaufen.
Leer stehende Häuser in Essen-Leithe sind seit Jahren nicht wieder vermietet worden
Neu vermietet wurden die Wohnungen schon lange nicht mehr. Sei jemand ausgezogen oder musste ins Heim, wie damals der Nachbar nach dem Tod seiner Frau, habe die Stadt rasch den Strom abgestellt, das Wasser abgedreht. Das war’s. So gehe das seit etwa 14 Jahren in der Siedlung. Die Häuser stammen aus den 1930er Jahren, sind noch bis 1994 genutzt worden, um wohnungslose Personen unterzubringen, bevor sie zu städtischen Mietwohnungen wurden.
Schon in den 1980ern kamen die ersten Abrisspläne auf. Stattdessen gab es einen riesigen Kraftakt und einen wohl einzigartigen Einsatz der Bewohner. In Absprache mit der Stadt sanierten sie ihre Siedlung auch selbst. Die Stadt ihrerseits investierte 1,9 Millionen Mark. Nach mehr als drei Jahren Bauzeit hatten die Häuser neue Dächer, Haustüren, Bäder, schließlich auch Isolierungen und neuen Außenputz – und die Menschen „eine Normalisierung der Wohnverhältnisse“, so schrieb es unsere Redaktion am 3. März 1988. Auf den Außenflächen waren Gartenlauben und auch Ställe für Hühner, Gänse, Tauben, Schweine und sogar ein Pferd entstanden.
Damals lebten in dem Leither Viertel 36 obdachlos gewordene Familien, es waren 136 Personen. „Obdachlosensiedlung Litterode hat ein neues Ansehen erhalten“, titelte die Zeitung, dazu gab es ein Bild von einem stolzen Bewohner mit seiner selbstgebauten Hütte im Garten: Es war der Vater von Dirk Bolduan. Der damals 43-jährige Werner Bolduan war etwa ein Jahr zuvor mit seiner Frau und sechs Kindern hergezogen und packte besonders eifrig mit an. „Sieht aus wie Schimanski“, sagen noch jetzt einige schmunzelnd mit Blick auf das Zeitungsfoto, da ihnen das Lachen seit der Infoveranstaltung des Allbaus vor rund fünf Wochen vergangen ist.
Gerüchte um einen Verkauf habe es schon länger gegeben. Bereits 2001 soll die Siedlung für rund zwei Millionen Euro angeboten worden sein, erinnern sich einige. Bis auf den enormen Leerstand sei aber nichts passiert. Ganz im Gegenteil, sagt Sonja Bolduan, die Schwester von Dirk Bolduan: „Als der Allbau die Häuser von der Stadt gekauft hat, haben wir schriftlich mitgeteilt bekommen, dass sich nichts ändert.“ In dem Schreiben, das der Redaktion vorliegt, formuliert der neue Eigentümer: „Neue Gesichter – sonst bleibt alles wie gehabt, wenn der Allbau nun die Bewirtschaftung Ihres Hauses übernimmt.“
Der Brief ist datiert auf den 3. Januar 2023, darin erklärt der Allbau auch, die Immobilien am 1. Januar übernommen zu haben. Ein gutes Jahr später flatterte den Mietern die Einladung zur Infoveranstaltung ins Haus („Wir hatten Angst, die Briefumschläge zu öffnen.“). Da hatte der neue Eigentümer längst festgestellt, dass der Bestand arg in die Jahre gekommen sei und sich für den Abriss sowie Neubau von 73 (60 davon öffentlich gefördert, die übrigen zum Verkauf) statt der bisherigen 36 Wohneinheiten entschieden. Dabei hätten die Zuständigen den Mietern gegenüber etwa mit ungenügender Dämmung („hier ist so gut isoliert, dass wir im Sommer frieren“) und auch schlechten Messergebnissen argumentiert. „Dabei habe ich gar keinen reingelassen“, ruft ein Mieter.
Während Allbau-Chef Dirk Miklikowski nach dem Infotreffen dann von betroffenen Reaktionen seiner Mieter sprach, von denen viele jedoch die Pläne begrüßt und die frühzeitige Information geschätzt hätten, reagieren diese selbst jetzt noch empört, enttäuscht und wütend. Weil die Atmosphäre eine ganz andere gewesen sei („viele von uns haben den Raum frühzeitig verlassen“), weil niemand Verständnis habe und weil sie die zugesagte Unterstützung beim Umzug mitnichten als großzügiges Angebot sehen. Geht es nach ihrem Vermieter, so sollen sie alle bis Anfang 2025 ausgezogen sein.
Die Mieter fordern Denkmalschutz statt Abriss des Essener Quartiers Litterode
„Wir werden vielleicht neue Möbel anschaffen müssen, möglicherweise werden die Küchen nicht passen“, sagt etwa Martin Wasser (50), der Maschinentechniker wohnt mit seiner Frau und ihren beiden Kindern (6 und 16 Jahre alt) an der Litterode, wohin er mit seinen Eltern 1981 gezogen ist. In die Häuser mit den bunten Fassaden, die damals einer Papageiensiedlung glichen. Als Kind habe er bei der Sanierung den Boden um die Häuser mit ausgeschachtet, hat Dachpfannen abgerissen. Später seien sogar Gasleitung in ihrer Straße verlegt worden. Angeschlossen aber wurden ihre Häuser nie, bis heute nutzen die Mieter Ofenheizung und Pellets sowie Elektroheizungen.
Sie würden gern ein paar Euro mehr Miete für eine Gasheizung zahlen, sagt Martin Wasser, derzeit seien es bei ihm 365 Euro für 57 Quadratmeter, andere zahlen 280 für 50 Quadratmeter. Etwas Vergleichbares aber werde sich vor allem auch wegen ihrer Geschichte, der Grünanlagen und der Gemeinschaft nicht finden lassen. Denkmalschutz statt Abriss wäre angebracht. „Wir sind doch eine große Familie.“
Zur Familie von Hevris Becker gehören ihre beiden Kinder, die ihre Kitaplätze in der Nähe haben. Die 43-jährige lebt seit 1987 in der Siedlung, besuchte in dieser einst selbst die dazu gehörende Kindertagesstätte. Nun arbeitet sie als Sachbearbeiterin, ihr Mann sei ebenfalls berufstätig, auf die Kitaplätze sind sie daher angewiesen: „Wie sollen wir die denn bei einem Umzug finden, da sie überall fehlen“, fragt sie besorgt.
Bei der Versammlung habe man ihnen gleich deutlich gemacht, dass rechtlich bereits alles geprüft worden sei. „Von uns haben aber auch einige Rechtsschutzversicherungen, natürlich werden wir uns informieren, sobald wir die Kündigungen haben“, sagt sie bestimmt, ist aber gleichzeitig vor allem traurig. „Wie wir uns fühlen, danach hat keiner gefragt.“
Hevris Becker hat zudem jüngst erst investiert, hat das Bad ganz neu gestaltet. Das gilt auch für Dirk Bolduan, der das Badezimmer umgebaut hat, nachdem seine pflegebedürftige Mutter bei ihnen eingezogen ist. Dass sein Zuhause bald abgerissen werden soll für ein neues Einfamilienhaus, das macht ihn fassungslos – dass sie gehen müssen, damit jemand kommt, der Geld hat. Dabei hätten die Bewohner im Laufe der Jahre der Stadt immer wieder angeboten, ihre Häuser zu kaufen. Erfolglos.
„Wir können uns nun um die neuen Wohnungen als Mieter bewerben, so wie alle anderen auch“, hat Dirk Bolduan erfahren sowie, dass die Stadt bei der Vergabe ein Mitspracherecht habe. Selbst, wenn sie zum Zuge kämen, wäre der geförderte Wohnraum jedoch eine weitere Hürde, da die meisten von ihnen arbeiteten und möglicherweise keinen Anspruch hätten. „Sie könnten doch erst die leerstehenden Häuser abreißen und uns in den Neubauten Wohnungen anbieten“, nennt er einen Kompromiss und ein Vorgehen, so wie es Wohnungsunternehmen mitunter in Essen tun würden.
Ihr Traum in Leithe bleibe aber, dass das Neubauvorhaben gestoppt werde, sagt der 55-Jährige: „Wir sind hier groß geworden, wir wollen nirgends hin.“ Am Dienstag (5. März) gibt es zunächst für drei von ihnen einen Termin bei Oberbürgermeister Thomas Kufen. Dem Allbau werfen die Mieter Profitgier vor, vermissen die soziale Verantwortung und das Verständnis dafür, was ihnen ihr Quartier bedeute.
Im Haus von Roswitha Weng hat deren Mutter bis zuletzt gelebt. „Sie ist in unserer Küche gestorben“, sagt die Tochter leise, die auch das mit der Litterode verbindet. Hier weiterhin wohnen zu können, das gebe ihr den dringend benötigten Halt, sagt die 62-Jährige und kämpft mit den Tränen. Am Dienstag wird sie dem Oberbürgermeister auch davon berichten können. Von ihrer Umgebung, die ihr so viel Sicherheit gibt. Von den Menschen, die ihr Geborgenheit schenken. Von ihrer Angst um ihr Zuhause und dem Gefühl, „nun am Abgrund zu stehen und darauf zu warten, geschubst zu werden.“
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