Essen. Essen registriert eine große Hilfsbereitschaft für flüchtende Ukrainer – und weiß doch nicht, wohin damit. Nur dass es wohl anders wird als 2015.
„Lagezentrum“. Das klingt nach geschäftigem Hin und Her und konstant bimmelnden Telefonen, nach flackernden Bildschirmen, Dauerkonferenzen und mehreren Wanduhren für die unterschiedlichen Zeitzonen. Doch so ist es nicht, noch nicht: „Lagezentrum“, so nennt sich bis auf weiteres eine gemeinsame Sitzung verschiedenster Fachleute aus der Essener Stadtverwaltung, die zweimal pro Woche im Rathaus tagt, um den flüchtenden Menschen aus der Ukraine zu helfen. Und die doch nicht weiß, was und wer da auf sie zukommt.
„Vor die Krise“ zu kommen und ihr nicht nur hinterherzuhecheln – das war bei der Flüchtlingskrise ab 2015 der Plan, an dem die Stadt angesichts der großen Welle von Asylbewerbern oftmals scheiterte. Das soll diesmal besser laufen, und die Chancen stehen gut. Schon „weil die Situation vermutlich nicht mit 2015 zu vergleichen ist“, wie Stadt-Sprecherin Silke Lenz die Einschätzung der Stadt zusammenfasst.
Die Stadt vermutet, dass viele ukrainische Flüchtlinge bei Bekannten unterkommen
Wie viele Menschen am Ende aus der umkämpften Ukraine in Essen landen, ist völlig unklar. Hochzurechnen, „das traut sich derzeit keiner“, heißt es. Schritt für Schritt werden deshalb die Notunterkünfte reaktiviert. Zu den Asylheimen in Altenessen und Schonnebeck, Leithe und Holsterhausen, Bredeney und Schuir, die jetzt bereits genutzt werden, soll der Standort Ruhrtalstraße in Kettwig kommen. Am Ende könnte die aktuelle Kapazität um 800 Plätze mehr als verdoppelt werden.
Parallel dazu werden stadtweit Wohnungen identifiziert, die sich kurzfristig nutzen ließen. Ob sie gebraucht werden, auch das ist unklar: Bislang geht die Stadt davon aus, dass viele anfänglich bei Freunden oder Verwandten unterkommen, schließlich leben in Essen knapp 1700 Ukrainer – neben gut 5000 Menschen aus der Russischen Föderation übrigens. Und schon jetzt organisieren Privatleute Unterkünfte, denn bis zu drei Monate könnten die Flüchtlinge ohne jedes Visum hierzulande leben.
Stadt will die „unheimlich große Hilfsbereitschaft“ der Essener nicht abwürgen
Die gespannte Erwartung der Stadt trifft auf „eine unheimlich große Bereitschaft, den Leuten zu helfen“, sagt Stadt-Sprecherin Lenz, eine Hilfswelle, die man einerseits „nicht abwürgen“ will, obwohl andererseits noch überhaupt nicht klar ist, was den Ukrainern in der Heimat wie auch hierzulande am besten hilft. „Wir gehen davon aus, dass Sachspenden gar nicht benötigt werden.“
Was Essenerinnen und Essener an Kleidung, Kinderspielzeug oder Lebensmitteln andienen, will man an die Caritas vermitteln. Überall sprießen zudem spontane Privataktionen aus dem Boden, während der Essener Pharma-Großhändler Noweda am Dienstag bekanntgab, mehrere Lastwagen und Transporter von Altendorf an die polnisch-ukrainischen Grenze geschickt zu haben: beladen unter anderem mit Arzneimitteln, Verbandsmaterial, medizinischer Ausrüstung, Baby- und Kindernahrung sowie Desinfektionsmitteln.
OB Kufen ist um Zeichen der Verbundenheit mit der Ukraine bemüht
Gut möglich, dass sich der Bedarf irgendwann ändert, niemand weiß das. Im Verwaltungsvorstand der Stadt war am Dienstag NRZ-Redakteur Jan Jessen zu Gast, der – zurück von einer Reise nach Kiew – seine Eindrücke vor Ort schilderte. Dazu zählt, dass viele Zivilisten einstweilen nur in die direkten Nachbarländer der Ukraine flüchten, in der Hoffnung, dass sie nach ein paar Monaten wieder zurück können, wenn das Schlimmste vorbei ist.
Was „das Schlimmste“ ist und wie lange es andauert, muss offenbleiben. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen, der den russischen Angriff auf die Ukraine in einer Videobotschaft am Dienstag „auch als Angriff auf unser Wertesystem“ bezeichnete, bemüht sich deshalb darum, Zeichen der Verbundenheit zu setzen: Vor dem Rathaus ist die ukrainische Flagge gehisst, am Mittwoch spricht er mit der ukrainischen Generalkonsulin Iryna Shum. Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern aus der ukrainischen und russischen Gemeinschaft in Essen sowie mit den Städtepartnern aus dem polnischen Zabrze stehen ebenfalls an.
Vorbereitungen für eine Städtepartnerschaftskonferenz liegen auf Eis
Die Vorbereitungen für die 2023 geplante Deutsch-Russische Städtepartnerschaftskonferenz in Essen liegen dagegen erstmal auf Eis: Eine für Mitte Mai angesetzte Konferenz im Rathaus wurde auf die Zeit nach den Sommerferien geschoben, was wunder: „Wir müssen den Charakter der Veranstaltung überdenken“, sagt Stadt-Sprecherin Silke Lenz, zumal neben den deutsch-russischen Freundschaftsgesellschaften auch deutsch-ukrainische und deutsch-belarussische Partnerschaftsvereine eingeladen sind.
Der Impulsvortrag für das zweitägige Treffen hatte übrigens den Titel: „Frieden und Sicherheit in Europa“.