Essen. Die Polizei überrascht, die Veranstalter begeistert, die AfD im Verteidigungs-Modus: Die Mehrheit, so scheint‘s, schweigt nicht mehr.
Wer seine Demo plant, der sucht sich im Zweifel bessere Gelegenheiten: sicher keinen Januar-Abend mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, sicher keinen Schnellschuss mit nur zwei, drei Tagen Vorbereitungszeit. Es sei denn, „es ist nicht mehr fünf vor zwölf, sondern Punkt zwölf“, wie es „Essen stellt sich quer“ formuliert hatte: Alarmiert durch ein vor wenigen Tagen bekannt gewordenes Treffen von Rechtsextremen und Identitären, die mit Angehörigen von AfD und Werte-Union einen völkischen „Masterplan“ zur „Remigration“ diskutierten, rief das Anti-Rechts-Bündnis für Montagabend zu einer Kundgebung samt Demozug auf. Und war vom Echo schlicht überwältigt.
Als die ersten schon wieder gehen, strömen immer noch neue Demonstranten auf den Grugaplatz
Denn sie wissen, wie das ist, viel Zuspruch zu erwarten und wenig zu ernten. Mit 300 unverwüstlichen Teilnehmern, so verrät Bündnis-Sprecher Christian Baumann, hatte man anfangs gerechnet, hatte auf 500 erhöht, als zu spüren war, dass die Mobilisierung trotz der Kürze der Zeit gelingt. Doch diese 500 spuckten um kurz vor 18 Uhr allein die letzten ankommenden Bahnen der U 11 am Rüttenscheider Stern aus, wo die Kundgebung startete. Am Ende bestätigte selbst die Polizei rund 6700 Demonstranten, und weil die ersten sich nach dem Demozug an der Grugahalle schon wieder per U-Bahn auf den Heimweg machten, als am Atlantic-Hotel noch immer neue Demonstranten auf den Grugaplatz strömten, mögen es spürbar mehr gewesen sein. 7000 plus X.
„Nie wieder ist jetzt!“ – Schon das Motto des Protests zeigte, welche Parallelen zu düsteren Zeiten das Bündnis und seine Unterstützer in Essen ziehen: Denn „Nie wieder ist jetzt!“, so lautete bereits im November der Titel einer Kampagne der NRW-Landesregierung gegen Hass und Hetze und wieder aufkeimenden Antisemitismus. Und so „unerträglich“ wie die Landesregierung diesen Trend, so unerträglich empfinden viele die Inhalte jenes Geheimtreffens im November, das mit AfD-Beteiligung die millionenfache Abschiebung oder Verdrängung von Zuwanderern diskutiert haben soll, betroffen davon selbst Deutsche mit Zuwanderungs-Geschichte. Ein Treffen, das nur ruchbar wurde, weil die in Essen beheimatete Recherche-Plattform „Correctiv“ davon Wind bekam.
Jetzt sei klar, dass „wahr geworden ist, was so lange ignoriert wurde“, klagt der Chef von „Correctiv“
Deren Mitgründer und Frontmann David Schraven gab denn am Montagabend auch die Schlagzahl vor: Als „Correctiv“ die Geschichte veröffentlichte, hätten manche in der Redaktion geweint, erzählt Schraven: „Weil klar war, dass das, was so lange ignoriert wurde, wahr geworden ist.“ Und anders als in früheren Zeiten könne die AfD inzwischen Wahlen gewinnen, dringe durch mit ihren Ideen, das sei tatsächlich schwer zu ertragen.
Unter großem Beifall der Demonstranten sprach sich der „Correctiv“-Chef ausdrücklich für ein Verbots-Verfahren gegen die AfD aus, das helfen könne, die Organisations-Struktur der Partei zu zerschlagen. Für das Ruhrgebiet, einen ausgewiesenen Schmelztiegel mit unzähligen Zuwanderungs-Geschichten sei er persönlich optimistisch, „dass wir uns von den Nazis nicht auseinandertreiben lassen“. Es gehe darum, „dass wir die Mauer sind, von der die Nazis der AfD abprallen“.
„Dass wir eine Massenvertreibung wollen“, so Essens AfD-Chef, „ist Wunschdenken unserer Kritiker“
Was macht das mit dieser Partei, die zur Kommunalwahl im Herbst 2020 zwischen Karnap und Kettwig einen Stimmenanteil von immerhin 7,5 Prozent auf sich vereinigen konnte, was für ein halbes Dutzend Rats-Mandate reichte? Essens AfD ist erkennbar im Verteidigungs-Modus, hat sich dazu entschieden, am Dienstag eine offizielle Erklärung zur Debatte um das Geheimtreffen in Potsdam herauszugeben, und vorab nur so viel vom Essener AfD-Vorsitzenden Günter Weiß: Es sei dies ja keine Einladung der AfD gewesen, sondern „von irgend so einem Millionär“.
Anti-AfD-Demo in Essen: 7000 Demonstranten auf der Straße
„Dass wir eine Massenvertreibung wollen“, beeilt sich Weiß zu versichern, „das ist Blödsinn, eine solche Vertreibung wird in der Partei überhaupt nicht diskutiert und ist wohl mehr Wunschdenken unserer Kritiker“. Man habe ja selbst viele Migranten in den eigenen Reihen, erst recht durch den Zulauf seit Frühjahr vergangenen Jahres, der Essens AfD rund 70 neue Mitglieder beschert habe. Alles in allem komme man jetzt auf etwa 300 Personen.
Laut AfD-Chef gibt es „ein beachtliches Potenzial, bei dem man sich fragt, ob man die zurückführen kann“
Ein klares Dementi also, und doch: Da gebe es auf der anderen Seite jene, die illegal hier seien, unkontrolliert zugewandert, oft arbeitslos, viele zur Ausreise verpflichtet. Die Städte würden dieses Ansturms nicht mehr Herr, das ist es auch, was die örtliche AfD im Essener Stadtrat bei jeder sich bietenden Gelegenheit anbringt: Kein Thema, das sie ohne die Migrations-Frage diskutieren will. Es handle sich da, betont auch AfD-Chef Weiß, um ein „beachtliches Potenzial, bei dem man sich fragt, ob man die zurückführen kann“, auch einstige Kriegsflüchtlinge übrigens. Das habe „nichts zu tun mit Vertreibung oder gar Deportation“.
Aber es hört sich dennoch an wie das Dementi vom Dementi, das an diesem klirrend kalten Abend ohnehin keiner mit nachdenklichem Gestus diskutieren will. „Ganz Essen hasst die AfD“, skandieren stattdessen viele, Alte und Junge, ganze Familien, Parteigänger oder nicht. Das mag ziemlich falsch sein, doch es ist, als habe das Geheimtreffen in Potsdam mit AfD-Beteiligung bei manchem in der Bevölkerung das Gefühl ausgelöst, „nicht länger eine schweigende Mehrheit zu sein“, so wie die Veranstalter von „Essen stellt sich quer“ es in ihrem Aufruf geschrieben hatten.
Gegen acht Uhr am Abend machen sich die Demonstranten von der Grugahalle auf den Heimweg. Die AfD, die in der Vergangenheit hier mehrfach Parteitage veranstaltet hat, mag noch nicht mit einem aktuellen Konter parieren. Sie meldet nach wie vor eine vorweihnachtliche „mutwillige Krippenzerstörung als Anschlag auf unsere Kultur und Tradition“.
Nicht in Essen, sondern in Rüsselsheim.