Essen. Ein seltsam erkranktes Kind hat einen Essener Uni-Professor 25 Jahre lang nicht mehr losgelassen. Jetzt hat er sie wissenschaftlich beschrieben.

Das Rätsel, das Professor Eberhard Passarge nun lösen konnte, wurde vor gut einem Vierteljahrhundert bei ihm vorstellig: ein Mädchen, dreieinhalb Jahre alt und dünn wie der Tod. Kein einziges Gramm Fett war an Daniela B. Passarge schickte also Zell- und Blutproben seiner Patientin von Essen aus an Spezialinstitute in Hamburg und Belgien — und erwartete, dass sie eine der bekannten Fettschwund-Krankheiten bestätigen würden. Doch die Ergebnisse waren negativ, das Kind hatte etwas Unbekanntes. Etwas Seltenes. Etwas Neues?

Es ist ja ein großes Missverständnis, dass seltene Krankheiten selten seien. Denn es gibt sehr viele verschiedene: Rund 7000 sind bekannt. Etwa jeder zwanzigste Bürger ist betroffen. In der Kinderabteilung des Uniklinikums Essen etwa werden fast nur solche kniffligen Fälle behandelt. Aber laut dem Essener Zentrum für Seltene Erkrankungen, das an der Uni eine Lotsenfunktion einnimmt, lassen sich zumindest bei Kindern mittlerweile über 80 Prozent der Fälle bekannten Krankheiten zuordnen.

Manche Fälle lassen Eberhard Passarge nicht los

Die Wissenschaft erlebt den Boom der Molekulargenetik. Dass sich jedoch unklare Diagnosen als neue Krankheit beschreiben lassen wie nun bei Daniela B., ist extrem selten. Es erfordert nicht nur Technik, sondern vor allem hartnäckige Menschlichkeit.

Der Fall ließ den Professor nicht los. Eberhard Passarge ist heute 80, Daniela B. ist 30 Jahre alt. Sie arbeitet als Lehrerin in Stockholm, wiegt rund 40 Kilo, hat Augenprobleme, nimmt Betablocker für ihr Herz — aber die Krankheit stellt sie nicht mehr in den Mittelpunkt ihres Lebens. Passarge, der das Institut für Humangenetik an der Uni-Klinik Essen gründete, der Standardwerke schrieb und dem deutschen Fachverband vorstand, ist weiterhin aus Leidenschaft Musikbeauftragter der Uni. Und er hält Kontakt zu vielleicht 15 Patienten, die ihn lange begleitet haben. Berät und besucht sie und ja, er geht auch zu Beerdigungen. Vor allem aber folgt er weiter der Spur ihrer Gene.

„Ich verdopple stets die Zeit zwischen den Untersuchungen“, erklärt Passarge sein System. „Und ich schicke den Patienten und Eltern immer Berichte in verständlicher Sprache, wenn sich etwas tut. Ich biete Anknüpfungspunkte, um in Kontakt zu bleiben.“

Bei Daniela B. stellten sich bald auch vorzeitige Alterserscheinungen ein. Sie leidet außerdem an Aspekten des sehr seltenen Marfan-Syndroms, einer Bindegewebskrankheit: extreme Kurzsichtigkeit, überlange Gliedmaßen, überdehnbare Gelenke, Gefäßveränderungen (Aneurysma). Zusammen mit der Fettgewebsstörung überlappen sich bei ihr Elemente dreier Krankheitsbilder.

Vor etwa sechs Jahren wurde Passarge aufmerksam auf einen Fall an der Charité Berlin, der dem von Daniela B. ähnelte. Daraufhin ließ Passarge diese drei Dinge noch einmal untersuchen: Die Altersgene waren normal, die Fettgene auch. Aber beim Marfan-Gen war eine Stelle verändert — nur an einer anderen Stelle als bei normalen Marfan-Patienten.

Passarge und die Berliner Kollegen beschrieben dies im Jahr 2010. Aufgrund des Fachartikels meldeten sich weitere Ärzte aus aller Welt. Ein dritter Patient kam aus Amerika, ein vierter aus Japan, ein fünfter aus Belgien, zwei weitere aus den USA. „Das konnte kein Zufall sein“, sagt Passarge. „Das ist ein neues Krankheitsbild.“ Im Februar dieses Jahres erschien im „European Journal of Human Genetics“ nun endlich die Studie, die erklärt, was Daniela B. hat. Der Name ist sehr kompliziert und technisch.

Und was bringt das nun? Heilen kann man solche genetisch bedingten Krankheiten noch lange nicht. Aber man gibt vielleicht nicht mehr Medikamente für falsche Ursachen. Und man spart sich alle unnötigen Untersuchungen, diesen langen quälenden Weg durch tausend Praxen. „Es gibt auch den Kindern Selbstbewusstsein, weil sie erklären können, was sie haben“, sagt Passarge. „Sie leiden ja auch unter ihrem Anderssein.“

Daniela B.: Ein Beispiel für die weltweit sechs anderen Patienten

Daniela B. bestätigt: „Ich find’s gut, dass man jetzt was hat.“ Sie hat die Selbsthilfegruppen der Marfan-Patienten besucht — „aber ich habe mich dort nie ganz zugehörig gefühlt. Die Treffen haben mir nicht viel gegeben. Jetzt ist eine Abgrenzung da. Ich würde nun auch gerne mal jemanden kennenlernen, der das Gleiche hat … Und auch für die anderen Eltern ist es gut.“ Die anderen sechs bekannten Patienten in aller Welt sind ja alle jünger als sie. Und Daniela B. kann nun ihr Beispiel sein, wie es sich leben lässt mit dieser neuen Krankheit.