Essen. Viele Häftlinge, die in Freiheit kommen, stehen vor dem Nichts. Wie die JVA Essen ihre Sträflinge auf die Zeit danach vorbereitet.

Murat G. (25, Name geändert) sitzt seit viereinhalb Jahren im Gefängnis in Essen und kommt im Januar raus. Warum sitzt er ein? „Schwere Körperverletzung.“ Der junge Mann grinst etwas verlegen und sitzt zwei Beratern vom Job Center Essen gegenüber an einem Tisch. Wir sind in der Justizvollzugsanstalt Essen, in einem großen Raum mit einer kleinen Orgel an der Wand, sonst werden hier Gottesdienste und Versammlungen abgehalten.

Viele Häftlinge tragen kurze Hose, obwohl draußen November ist

Doch heute ist die Beratungs- und Infomesse „Essener Entlassungskompass“, ausgerichtet vom Gefängnis für die Inhaftierten, zum zweiten Mal in diesem Jahr. „Entlassene, die keine soziale Unterstützung haben, sind mit der Freiheit schnell überfordert und resignieren, das Rückfall-Risiko steigt“, sagt Marc Marin, Sprecher des Gefängnisses. Deshalb müssten die Inhaftierten, deren Entlassung bevorsteht, früh mit Hilfe-Angeboten und Beratung in Kontakt kommen. Deshalb diese Messe, in der Häftlinge Gespräche führen können mit Vertretern von Einrichtungen wie Job Center, Bewährungshilfe, Schuldnerberatung, sozialen Initiativen. „Strukturiertes Übergangsmanagement“ nennt man sowas. Alle 30 Minuten werden neue Häftlinge für Gespräche reingelassen, blasse Männer in schlichter Kleidung, viele in kurzer Hose, obwohl draußen kalter November ist. Aber draußen ist eine andere Welt. Und für niemanden wird es leicht, dort Fuß zu fassen, ohne wieder abzurutschen. Das fängt schon mit einer eigenen Wohnung an.

Häftling Murat G. (vorne, Name geändert) im Gespräch mit Thomas Kemperdiek vom Jobcenter Essen. Daneben Mitarbeiterin Selcan Cura.
Häftling Murat G. (vorne, Name geändert) im Gespräch mit Thomas Kemperdiek vom Jobcenter Essen. Daneben Mitarbeiterin Selcan Cura. © FUNKE Foto Services | Marie-Christin Jacobs

Herr G., wo werden Sie wohnen ab Januar? „Erst mal bei meiner Mama“, sagt der Häftling, „dann mal sehen.“ Thomas Kemperdiek vom Job Center klärt auf. „Sie haben nach der Haft Anspruch auf 563 Euro Regelleistungen plus anteilige Kostenübernahme für eine Unterkunft.“ Murat G. will so schnell wie möglich eine eigene Wohnung beziehen können, dann zurück in den Job, „ich werde in Castrop auf dem Bau anfangen, da habe ich schon Zusagen.“

Warum muss das Gefängnis die Häftlinge so intensiv auf die Freiheit vorbereiten? „Wer über Jahre gewohnt ist, keinen Schritt alleine gehen zu können, alle zehn Meter eine Tür aufgeschlossen zu bekommen, drei Mahlzeiten am Tag zu erhalten, der muss schrittweise realisieren, dass in der Freiheit eine Menge auf ihn zukommt“, sagt JVA-Sprecher Marin. Behördengänge ohne Ende, Papierkram, und das vom absoluten Nullpunkt aus: „Während der Haft verlieren die Sträflinge ihre Wohnung, Familien wenden sich häufig ab, Partnerschaften lösen sich auf. Dass wir als Justizvollzugsanstalt hier früh präventive Hilfe anbieten, soll vor allem dafür sorgen, dass die Häfltinge nicht rückfällig werden, ist also ein Dienst an der Gesellschaft.“

Häftling erzählt: 500 Euro Gewinn täglich durch Drogenhandel

Häftling Benjamin Wünsch (39) sitzt am Info-Stand vom CVJM, der mit Projekten wie „Restart“ Häftlingen Hilfe anbietet - zum Beispiel bei der Suche nach einer Wohnung. „Im März komm‘ ich raus“, sagt Wünsch, mit Unterbrechungen hat er dann fünf Jahre abgesessen - wegen intensiven Drogenhandels. „Ich hab erst in Katernberg und später in Steele auf der Straße Cannabis verkauft und Pillen“, sagt Wünsch. Und das im großen Stil - die Mengen, die die Polizei in seiner Wohnung fand, waren so groß, dass die lange Haftstrafe fällig war. „Ich bin da reingerutscht durch die Clique“, sagt Wünsch, der nach dem Hauptschulabschluss in Katernberg zunächst eine Lehre als Maler und Lackierer machte, die dann aber abbrechen musste wegen Lungenproblemen. Statt einer neuen, geregelten Arbeit stieg er in den Drogenhandel ein, war selbst schwer abhängig, machte am Ende rund 1000 Euro am Tag Umsatz, davon 500 Gewinn, durchs Dealen. „Ich hab gut gelebt. Mit den Kunden verabredet man sich am Telefon, man macht 20 bis 30 Deals am Tag.“

Die Haft verlief nicht ohne Zwischenfälle, eine Therapie brach er ab, aber die letzten Jahre, sagt Wünsch, war er stabil. „Ich hab mittlerweile auch wieder Kontakt zu meiner Tochter, da war sieben Jahre Funkstille.“ Dass er trotzdem vor dem Nichts steht, sei ihm klar, „die Frau ist weg, die Wohnung ist weg“, und deshalb wird am ersten Tag in Freiheit der CVJM seine erste Anlaufstelle sein, er wird Hilfe brauchen auf der Suche nach einer Wohnung. Der CVJM ist eng vernetzt mit Wohnungsbaugesellschaften, „der ganze Vorgang der Wohnungssuche wird von uns begleitet“, sagt Sebastian Geßmann vom CVJM.

Ein Job bei einem Sicherheits-Dienst als Türsteher: „Das geht nach der Haft nicht mehr.“

Und Arbeit? Häftling Wünsch sagt schulterzuckend: „Mal gucken.“ Vor der Haft hatte er zwischendurch für Sicherheits-Dienste gejobbt als Türsteher, „aber das geht mit der Haftstrafe jetzt natürlich nicht mehr.“

Das „strukturierte Übergangsmanagement“ des Gefängnisses geht weiter, auch wenn Leute wie Wünsch bald draußen sein werden und hoffentlich Fuß fassen. Die nächste Info- und Beratungsmesse dieser Art wird im Frühjahr 2024 sein. Es gibt viel zu tun: Im Essener Knast sitzen fast 450 Männer ein, die meisten wegen Drogendelikten oder Beschaffungskriminalität, kaum einer sitzt hier länger als drei oder vier Jahre. Entsprechend wichtig ist es, die Männer vorzubereiten auf das, was kommt, wenn sich die Gefängnistür hinter ihnen schließt. Hoffentlich für immer.

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