Essen-Rüttenscheid. Im Gefangenenchor der JVA Essen können Häftlinge kurzzeitig Mauern und Gitter vergessen. Wie schwere Jungs Friedenslieder singen – ein Besuch.

Warum er sich entschieden hat, beim Chor mitzumachen? Elyas Becker (Name geändert) ist ehrlich. „Ich habe gehört, dass man hier manchmal einen Döner bekommt.“ Das war 2020. Einen Döner bekommt er längst nicht in jeder Probe, und doch ist er geblieben. Wie für viele andere ist der Gefangenenchor der JVA Essen auch für den 26-Jährigen eine willkommene Gelegenheit, um die Zelle zu verlassen. Hier können sie einmal die Woche Mauern und Gitter vergessen.

Der evangelische Gefängnispfarrer Michael Lucka leitet den Chor seit zehn Jahren. Sein Anspruch ist es nicht, perfekte Sänger auszubilden. Das würde wohl auch nicht gehen – zu groß ist die Fluktuation, Häftlinge kommen und gehen, werden entlassen oder nach ihrer Untersuchungshaft und rechtskräftigen Verurteilung in ein anderes Gefängnis gebracht. „Die meisten haben davor höchstens mal unter der Dusche gesungen“, sagt Lucka. Aber: „Sie sagen selbst, dass sie sich während der Probe frei fühlen.“

Essener sitzt wegen versuchten Mordes ein

So geht es auch Elyas Becker. Der Essener stand kurz vor Abschluss seines Bachelorstudiums, als er in der JVA landete. Nun sitzt er wegen versuchten Mordes ein. Was genau passiert ist, darüber möchte er nicht sprechen. „Ich habe das selbst noch nicht ganz verarbeitet“, sagt er. Er hat seine Untersuchungshaft in Essen verbracht und wartet aktuell auf den Umzug in die JVA Hagen, von der aus er in die Anstalt verteilt wird, in der er letztendlich seine Strafe verbüßen wird. „Bei der Chorprobe fühlt man sich irgendwie heimisch, man kann alles ausblenden“, sagt Becker. „Als ob man draußen wäre.“

Dirk Wachter (Name geändert) berichtet Ähnliches. Der 46-Jährige sitzt wegen bewaffneten Drogenhandels, auch er wartet auf den Umzug in ein anderes Gefängnis. „Ich habe 27 Jahre lang nichts anderes gemacht als Drogen zu verkaufen“, sagt er. Nach der Schule sei er abgerutscht, danach habe er keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen. Im Gefängnis möchte er bald eine Ausbildung machen, am liebsten zum Elektrotechniker oder Fliesenleger. „Es tut einfach gut, mal aus der Zelle rauszukommen“, betont er. Mit der Zeit entwickele man aber auch richtigen Ehrgeiz – und ärgere sich, wenn man beim Singen den Einsatz verpasst habe.

Häftlinge in der JVA Essen haben eine Stunde am Tag Freigang

Wenn sie nicht im Gefängnis arbeiten oder an Sport- und Freizeitgruppen teilnehmen, haben die Häftlinge nur eine Stunde Freigang. Den Rest des Tages müssen sie in ihrer Zelle verbringen. Ein Einzelhaftraum ist etwa zehn Quadratmeter groß. Naturgemäß seien die Gruppen sehr beliebt, erklärt JVA-Sprecher Marc Marin. Auch der Chor hat eine lange Warteliste. „Die Häftlinge sind froh, mal etwas anderes zu sehen“, sagt auch Martin Hohendahl, der den Chor schon seit 15 Jahren als Organist begleitet.

Er hat zu vielen Häftlingen ein herzliches Verhältnis, man duzt sich, manchmal gibt es vor der Probe sogar eine Umarmung. „Ich sehe den Menschen und nicht das Verbrechen“, betont Hohendahl. „Oft weiß ich gar nicht, was die Gefangenen getan haben.“ Er singe einfach Lieder mit ihnen. Hohendahl hat eine klassische Musikausbildung und ist zusätzlich in Kirchenmusik ausgebildet. Mit den schweren Jungs aus dem Gefängnis singt er meist klassische christliche Lieder. So auch heute.

Gefangenenchor der Essener JVA singt Friedenslieder

Maximal Platz für 528 Häftlinge

In der JVA Essen sind Häftlinge mit kürzeren Strafen (bis zu 30 Monaten) untergebracht. Sie haben zum Beispiel Diebstahl, Betrug, geringere Körperverletzung oder Drogendelikte begangen.

Außerdem sind Untersuchungshäftlinge in der JVA Essen eingesperrt, bevor sie in andere Gefängnisse verteilt werden. Darunter sind auch Häftlinge, die schwerere Verbrechen verübt haben.

Das Essener Gefängnis bietet Platz für maximal 528 Häftlinge. Es beherbergt ausschließlich männliche Erwachsene, keine Frauen oder Jugendstraftäter.

Bei dieser Probe dreht sich alles um die Situation in der Ukraine, Hohendahl hat Friedenslieder mitgebracht. Pfarrer Michael Lucka begleitet den Chor auf der Posaune, einer der Gefangenen spielt Gitarre, einer zupft den Bass, einer trommelt auf dem Cajón. Schon bald dringen Männerstimmen durch die geräumige Kirche der Justizvollzugsanstalt. Sie singen „Schalom chaverim“ („Friede sei mit euch, Freunde“), ein israelisches Volkslied.

„Und jetzt mit ein bisschen mehr Power“, ermahnt Martin Hohendahl seine Schützlinge zwischendurch. „Wie heißt dat?“, fragt einer von ihnen zwischendurch in breitem Ruhrpott-Dialekt und blättert auf der Suche nach dem hebräischen Wort in seinem Gesangsheft. Obwohl die Männer während der Probe ihre FFP2-Masken aufbehalten, klingen ihre Stimmen kaum gedämpft. Nicht jeder Ton stimmt, nicht immer passt das Timing beim Kanon, doch sie singen aus voller Kehle.

Höhepunkt der Chorprobe ist ein Gottesdienst, der regelmäßig im Anschluss gefeiert wird. Der Küster, selbst Häftling, hat eine musikalische Ausbildung. Während er das „Ave Maria“ singt, ist der Saal voller Gefangenen ganz still. Manche lauschen mit verschränkten Armen, manche mit gefalteten Händen. „Ich bin hier, weil ich Fehler im Leben gemacht habe“, sagt der 63-jährige Sänger im Anschluss. „Aber ich bin sehr gläubig. Im Chor fühle ich mich behütet.“