Essen. Nach der befremdlichen Demonstration in der Essener Innenstadt mit islamistischen Parolen warnt Professor Burak Çopur davor, zu sorglos zu sein.
Bis vor knapp zehn Jahren mischte er für die Grünen im Rat der Stadt Essen mit, heute leitet Professor Burak Çopur das Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention in Essen. Eine Anlaufstelle, die in diesen Tagen gefragter sein dürfte denn je. Ein Interview.
Herr Professor Çopur, rund 3000 Menschen verbreiten bei einer Demo islamistische Hetze, skandieren antisemitische Parolen und fordern ein Kalifat. Müssen wir uns Sorgen machen?
Burak Çopur: Was wir da in Essen beobachten konnten, hat in der Tat eine ganz neue Qualität, die wir so in Deutschland bisher nicht kannten. Das war ja keine Solidaritäts-Demo für Palästina, das war eindeutig eine Islamisten-Demo. Hier müssten bei allen die Alarmglocken läuten.
Sie sind Leiter eines Zentrums für Radikalisierungsforschung. Nah dran also. Waren Sie denn persönlich auch überrascht?
Dass sich die Islamisten-Szene zunehmend radikalisiert, das beobachten wir Forscherinnen und Forscher schon seit langem. Und wir mussten in der Vergangenheit leider zur Kenntnis nehmen, dass unsere Hilferufe dazu wenig Gehör fanden. Dass sich die Anhängerinnen und Anhänger der Hizb ut-Tahrir Bewegung (Islamische Befreiungsfront, die Redaktion) aber dermaßen gut organisiert zu tausenden im Herzen des Ruhrgebiets treffen, das hat mich dann doch überrascht. Denn es sind ja nicht nur Jüdinnen und Juden, denen diese Leute Angst einflößen, sondern auch Menschen aus ganz verschiedenen Ländern des Nahen Ostens: dem Irak, Iran, aber auch der Türkei. Minderheiten, die vor den Islamisten geflohen sind. Und jetzt marschieren sie sozusagen hier vor ihrer Haustür.
Wobei die Islamisten doch nicht nur aus Essen gekommen sein dürften.
Da liegen mir keine Erkenntnisse vor. Wir können davon ausgehen, dass die meisten aus dem Ruhrgebiet und der Umgebung stammen, wissen aber, dass „Generation Islam“ und andere Online-Netzwerke massiv mobilisiert haben – bei immerhin über 100.000 Followern. Natürlich sind das nicht alles Anhängerinnen und Anhänger von Hizb ut-Tahrir, aber es war doch eine sehr gezielte und konzentrierte Aktion und Machtdemonstration.
Und der Protest gegen die israelischen Angriffe im Gaza-Streifen am Ende nur willkommener Anlass, sich mal öffentlich zu präsentieren?
Tatsächlich, ja. Davon geht auch die Polizei aus: dass es vor allem um islamistische Propaganda und Agitation ging.
Warum Essen? Nur der geografischen Lage wegen?
Demos gibt es ja bundesweit, aber klar, es ist die Großstadtlage im Herzen des Ruhrgebiets und weil man weiß, dass hier im Ruhrgebiet, in NRW, die Islamistenszene gut organisiert ist, das kann man schon sagen.
Dass dabei Frauen und Männer getrennt marschierten, wäre manchem gar nicht so sauer aufgestoßen. Warum sollte uns das aber sorgen?
Weil das Prinzipien der Scharia sind, die auf Demonstrationen umgesetzt wurden, nämlich die Geschlechter-Trennung. Das ist aus meiner Sicht eine Machtdemonstration, ein Punkt, wo die Polizei hätte eingreifen sollen. Und die Versammlung spätestens auflösen müssen, als die Hizb ut-Tahrir-Flaggen gehisst wurden.
Zu wenig Polizei? „Das ist nicht das, was ich unter wehrhafter Demokratie verstehe“
Es gab Kalifat-Forderungen sogar in deutscher Sprache. Wundert Sie nicht auch, dass derlei Plakate und Fahnen nicht im Vorfeld – so wie dann ja tags darauf in Düsseldorf – gecheckt werden?
Die Polizei muss sich hier tatsächlich die Frage gefallen lassen, ob sie die erforderliche Wachsamkeit und Sorgfalt hat walten lassen. Denn diese Demos sind ja keine Einzelfälle, man war mittlerweile vorgewarnt. Nachträglich kündigt man jetzt an, Bild-Material auswerten zu wollen. Das zeigt ein Versagen, im Vorfeld nicht genau genug auf die Demonstration und ihre Anmelder geschaut zu haben. Denn „Generation Islam“ und „Realität Islam“ haben ja im Vorfeld über das soziale Netzwerk Instagram getrommelt. Dass man dann nicht weiß, worauf das Ganze hinausläuft, erscheint schon sehr verwunderlich. Und wenn die Polizei nachträglich argumentiert, sie hätte zu wenig Kräfte vor Ort gehabt, um einzugreifen – also das ist nicht das, was ich unter einer wehrhaften Demokratie verstehe.
Was macht Menschen zu Radikalen?
Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention (ZRP) der Internationalen Hochschule in Essen besteht aus fachlich breit aufgestellten, praxisorientierten, mehrsprachigen und interkulturell geschulten Professorinnen und Professoren.
Geleitet wird das Essener Forschungszentrum von dem renommierten Essener Türkei-Experten und Politologen Professor Burak Çopur. Der 46-Jährige war von 2004 bis 2014 für die Grünen Mitglied im Rat der Stadt Essen und Vorsitzender des Integrationsausschusses.
Was müsste denn nun passieren, aus Ihrer Sicht als Radikalisierungs-Forscher?
Na ja, das Kind ist jetzt leider zum Teil schon in den Brunnen gefallen. Wir haben jahrelang vor einer wachsenden Radikalisierung gewarnt, die es im Ruhrgebiet auf allen Seiten gibt: Wir haben rechtsextremistische Deutsche wie die „Steeler Jungs“, wir haben die Islamisten-Szene, die Dschihadisten-Prozesse am Oberlandesgericht in Düsseldorf, wir haben das Thema organisierte Kriminalität unter libanesischen Menschen, hatten erst kürzlich die großen Konflikte zwischen Libanesen und Syrern, und wir sind hier – was man nicht unterschätzen sollte – die Hochburg der türkischen Regierungs-Partei AKP, in der Präsident Erdoğan die Hamas befürwortet und unterstützt. Das sind für mich Vorboten einer Radikalisierung auch der türkeistämmigen Community im Ruhrgebiet. – Es ist, kurzum, ein Pulverfass, auf dem wir hier sitzen.
Sie können einem Angst machen...
Mag sein, aber die Vorboten gab es ja seit langem. Jetzt ist eingetreten, wovor wir vor einigen Jahren auch in Ihrer Zeitung gewarnt haben. Und jetzt muss dringender denn je gegengesteuert werden. Christian Kromberg, der Ordnungsdezernent der Stadt Essen, hat uns für Mittwoch eingeladen, gemeinsam zu überlegen, wie wir vorbeugend arbeiten können. Die alten Ansätze müssen noch mal auf den Prüfstand...
...die sahen nämlich wie aus?
Beispielsweise so, dass man meinte, arabisch-stämmige Jugendliche mit einem Mittelschichts-typischen Geschichtsunterricht davon zu überzeugen, dass es sowas Schreckliches wie den Holocaust gab. Ich bekomme ständig Rückmeldungen, wie überfordert die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen sind. Da muss schon in der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte investiert werden, denn diese Auseinandersetzung im Unterricht kann für sie ja auch höchst gefährlich werden. Wir brauchen neue Zugänge in der Jugend- und Sozialarbeit zu den jungen Menschen, die sich noch nicht radikalisiert haben. Es geht aber auch bis zu den Universitäten, wo man in Demos den „Apartheidstaat“ Israel anprangert, ohne die antisemitische Ideologie dahinter zu durchleuchten. Das ist noch mal eine andere Baustelle.
Und zwar eine deutsche, keine arabisch-stämmige...
...auf die immer mit dem Finger gezeigt wird. Wer behauptet, das alles sei nur ein importierter Antisemitismus, der macht sich einen schlanken Fuß. Das verbindende Element ist der Antisemitismus, ein diffuser Hass gegen Juden und die „Solidarität mit dem Gaza“. Natürlich darf man das Schlimme, was dort passiert, kritisieren, denn was haben die getöteten Kinder im Gaza-Streifen mit der Hamas zu tun? Nichts! Aber man muss eben aufpassen, nicht ins antisemitische Fahrwasser zu geraten. Dieser Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, nicht nur eines der arabischen Demonstrierenden. Laut der Mitte-Studie von Andreas Zick aus Bielefeld haben über 20 Prozent der deutschen Bevölkerung eine antisemitische Einstellung.
Burak Çopur plädiert für eine aufsuchende Online-Arbeit: „Radikalisiert wird im Netz“
Was lässt sich denn in der von Ihnen erwähnten Runde mit der Stadt besprechen und regeln, damit das Pulverfass in Essen und anderswo nicht hoch geht?
Nichts, was die Probleme von heute auf morgen löst, das muss uns klar sein. Denn Phänomene wie der Antisemitismus sind ja über Jahre und Jahrzehnte gewachsene Probleme. Die werden auch durch die Familien weitergetragen. Wir brauchen definitiv eine große Aufklärungskampagne gegen Antisemitismus, auch in muslimischen Kreisen. Wir brauchen neue ganzheitliche Ansätze in der Prävention und politischen Bildung. Wir müssen unbedingt mehr tun durch eine aufsuchende Online-Arbeit, denn die Radikalisierung findet im Netz statt. Mit einfachen Forderungen nach Abschiebung kommt man hier nicht viel weiter, denn das sind ja zum Teil auch deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Wir müssen diese Probleme als unsere eigenen erkennen und bei der Lösung nicht kleckern sondern klotzen.
Derzeit wird das Problem in Demonstrationen bei der Polizei abgeladen.
...die natürlich auch total überfordert ist, wenn sie schlicht nicht versteht: Was schreit der Typ da vorne? Und was steht auf der Fahne? Da braucht es eine interkulturelle Weiterbildung der Polizei, aber eben auch den Mut, bei einer Demo einzugreifen, wenn es demokratie- und verfassungsfeindlich wird. Wo friedlich demonstriert wird, hat keiner was dagegen, aber wenn es einen Islamisten-Aufmarsch gibt, braucht es klare Ansagen. Da kann die Polizei sich nicht dahinter zurückziehen, dass zu wenig eigene Einsatzkräfte vor Ort zu vielen Demonstranten gegenüberstanden.
Was jetzt passiert, spielt den Rechtsaußen politisch in die Karten. Erwarten Sie jetzt einen Überbietungswettbewerb in der Politik, wer die härteste Gangart fordert?
Man löst das Problem jedenfalls nicht, indem man den Rechten weiter nach dem Mund redet. Je mehr die anderen Parteien populistische Forderungen der AfD aufgreifen, desto mehr stärken sie den rechten Rand, das ist eine politikwissenschaftliche Faustformel. Abschieben, niemanden mehr reinlassen – wenn’s doch so einfach wäre. Wir stehen aber vor einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung, die wir auf allen Feldern lösen müssen. Das braucht Zeit.