Essen. „Literaturdistrikt“ in Essen: Lesefest will Mut machen in Krisenzeiten: Das Themenspektrum reicht vom Protest im Iran bis zum Krimi-Comic mit KI.
Martin Luther hätte in Erwartung des Weltuntergangs bekanntlich noch ein Apfelbäumchen gepflanzt. Semra Uzun-Önder und Fatma Uzun, Organisatorinnen des Essener Lesefestivals „Literaturdistrikt“, senden angesichts der vielen Krisen, Kriege und größer werdender Zukunftssorgen ein anderes Zeichen der Hoffnung aus. „Noch Mal L(i)eben“ heißt das Motto des diesjährigen Lesefestivals, das vom 6. bis 15. November auf verschiedenen Lesebühnen der Stadt für Austausch und Begegnung sorgen will.
Eigentlich hätte das mehrfach ausgezeichnete Literaturtreffen vor allem Grund zum Feiern. Im Mai dieses Jahres wurde das 2005 noch unter dem Namen „Literatürk“ gegründete Festival für seine herausragenden Verdienste auf dem Gebiet der Literaturförderung in Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet. Im Herbst kam der Ehrenpreis des Literaturpreises Ruhr hinzu. Das Festival habe eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die sogenannte „Gastarbeiterliteratur“ zu einem gleichwertigen und wichtigen Bestandteil der deutschen Literaturlandschaft zu machen, so die Begründung. Wobei „Literaturdistrikt“ die thematischen und geografischen Grenzen mittlerweile deutlich ausgeweitet hat.
„Tausend und ein Morgen“ mit Ilija Trojanow
Doch unter die Freude über die vielgestaltige Anerkennung mischt sich bei den Festival-Macherinnen mehr denn je auch die Sorge um die Lage der Welt. Müssen wir uns beeilen, noch mal zu lieben, bevor alles zu Ende ist? Oder ist es nur Schwarzmalerei? Kann Liebe den gesellschaftlichen Diskurs verändern? Autorinnen und Autoren von der im Iran geborenen Gilda Sahebi bis zum aus Belarus stammenden Viktor Martinowitsch stellen ihre Sicht der Dinge zur Diskussion .
Infos zum Festival
Bei „Literaturdistrikt“ stehen vom 6. bis zum 15. November zehn Veranstaltungen an sieben Spielstätten in Essen auf dem Programm.
Ergänzt wird das Festival durch Angebote für Kinder- und Jugendliche und ein Digitalprogramm auf dem Youtube-Kanal. Tickets und Infos: www.literaturdistrikt.de
Gleich zu Beginn des Festivals ist deshalb Zeit für eine „positive Utopie“, wie sie Bestseller-Autor Ilija Trojanow in seinem Roman „Tausend und ein Morgen“ entworfen hat. Der Schriftsteller lässt seine Protagonisten eine Zeitreise in die Vergangenheit antreten – und die Weichen für eine bessere Gegenwart womöglich neu stellen (6. November, 19 Uhr, Filmstudio Glückauf).
Revolution der Liebe: Emilia Roig will die Ehe abschaffen
Deutlich finsterer blickt der Minsker Autor Viktor Martinowitsch mit seinem Roman „Nacht“ in die Zukunft. Die Lichter sind in seiner Erzählung buchstäblich schon ausgegangen: Blackout in Europa. Der Strom ist weg, alle Sicherheiten verloren, die Zivilisation im Begriff des Zerfallens. Und wieder geht einer auf die Reise, um seine Geliebte zu finden und die Hoffnung nicht aufzugeben. Für den Essener Auftritt im Museum Folkwang (12. November, 15 Uhr) wird Martinowitsch eigens aus Belarus anreisen.
Liebe ja, Ehe nein: Emilia Roig plädiert für die Abschaffung der normierten Trauschein-Beziehung. Im Gespräch mit der Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal macht sie am 13. November, 19.30 Uhr (Zentralbibliothek Hollestraße) Mut für eine „Revolution der Liebe!.
„Unser Schwert ist Liebe“ heißt das Buch der deutsch-iranischen Journalistin Gilda Sahebi. Die Autorin, gibt darin profunde und erschütternde Auskünfte über die Lage im Iran nach den Massenprotesten, ausgelöst vom Tod der jungen Iranerin Jina Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei wegen eines verrutschten Kopftuchs verhaftet worden war und später an ihren schweren Verletzungen starb. Der Brutalität der Regimes, so Sahebi, setzten die Iranerinnen und Iraner dabei die stärkste Kraft entgegen: die Liebe.(15. November, 19.30 Uhr, Café Central.)
Familiäre Krisen zu bewältigen hat Yunus, Held in „Vaters Meer“, dem jüngsten Roman von Deniz Utlu. Als der Vater nach zwei Schlaganfällen nur noch per Augenlid mit der Umgebung kommunizieren kann, versiegt der Austausch und sorgt gleichzeitig doch für einen neuen Blick auf die eigenen Erinnerungsbilder und die Herkunftsgeschichte der Eltern. Die am Essener Schauspielhaus derzeit prominent vertretene Autorin Fatma Aydemir präsentiert das Buch gemeinsam mit Deniz Utlu im Theater „Szene 10“, Girardetstr., 9. November, 19.30 Uhr).
„Noch Mal L(i)eben“, das Festival-Titel, ist schließlich auch Gesprächsthema für Kolumnistin Samira El Quassil und Podcaster Wolfgang M. Schmitt (11. November, 19.30 Uhr, Zentralbibliothek Hollestraße). Auch Tarkan Bagci nimmt das mit der Liebe wörtlich. In „Heartbreak“ erzählt der Podcaster, Fernsehmoderator und Bestseller-Autor Bagci eine moderne Lovestory zwischen sonnigem Toscana-Feeling und grauen Seelenschatten (8. November, 19.30 Uhr, Casa in der Theaterpassage).
Als Dichterinnen-Doppel stellen sich Lütfiye Güzel Mely Kiyak am 7. November, 19.30 Uhr, im Theater Szene 10, Girardetstr. unter dem Titel „Künstler werden nicht gemocht“ vor. Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer („Als wir träumten“) kommt mit seiner ersten literarischen Übersetzung nach Essen. In „Street Cop“ von US-Autor Robert Coover bekommt es ein altmodischer New Yorker Polizisten nun mit Robocops und künstlicher Intelligenz zu tun. Die vergnüglichen Illustrationen stammen von Pulitzer-Preisträger Art Spiegelman (10. November, 19.30 Uhr, Leseraum, Akazienallee).
Trotz der vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen wolle man das Festival-Publikum doch auch „mit einem guten Gefühl“ nach Hause gehen lassen, so Semra Uzun-Önder. Gute Begegnungen und gute Bücher könnten ja gerade in Krisenzeiten ausgesprochen hilfreich sein.