Essen. Jörg Sartor (67) ist Essens Tafel-Chef, täglich werde er beschimpft. Nicht der einzige Grund, warum der ehemalige Bergmann ans Aufhören denkt.

  • Seit fast 20 Jahren führt Jörg Sartor die Tafel Essen
  • Der 67-Jährige ist zunehmend frustriert
  • Er werde beschimpft, zeitgleich stockt der angestrebte Umzug der Tafel

Essens Tafelchef ist müde. „Ich mache das jetzt seit 19 Jahren, irgendwann ist man leer“, sagt Jörg Sartor. Jeden Tag, sagt der 67-Jährige, werde er beschimpft, gleichzeitig kommen die Umzugspläne für die Tafel nicht recht von der Stelle. Es staut sich mehr und mehr Frust an: „Ich hab eine Pelle wie ein Stahlschrank, aber wenn Sie täglich angefeindet werden, macht das keinen Spaß.“

Dabei will der ehemalige Bergmann doch eigentlich nur eins: helfen. Und zwar denjenigen, die wenig haben. Er sei zunehmend frustriert, wie so viele andere Ehrenamtliche auch, erzählt er. Da fühlt er sich eins mit anderen freiwilligen Helfern, die ebenfalls Frust schieben, Fußballtrainer im Amateurbereich zum Beispiel.

Bei Jörg Sartors Ehrenamt geht es täglich ans Eingemachte. Zu seinen unangenehmsten Aufgaben gehört es, Menschen abzulehnen, die das Angebot der Tafel eigentlich dringend bräuchten, um über die Runden zu kommen. Sartor erzählt etwa von schwierigen Telefonaten, in denen er nach Absagen regelmäßig zu hören bekomme: „Aber die Ukrainer!“ Seit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs sind allein nach Essen Tausende Menschen von dort aus geflüchtet – und viele bei der Tafel registriert.

Tafel Essen: Genereller Aufnahmestopp im Juli 2022

Die aktuelle ist nicht die erste Flüchtlingswelle, durch die Jörg Sartor seine Tafel lotsen muss. Während der Flüchtlingskrise 2015 stieg wie bei vielen anderen Einrichtungen landauf landab die Zahl der Migranten an. Als deren Anteil in Essen auf 75 Prozent gestiegen war, verhängte die Tafel Essen 2018 einen vorübergehenden Aufnahmestopp für Nicht-Deutsche. Sartor begründete die Entscheidung des Tafelvorstandes seinerzeit plakativ: „Die deutsche Oma bleibt weg, weil sie sich nicht mehr wohl fühlt.“ Bundesweit folgte nach erster Berichterstattung unserer Redaktion ein Aufschrei, im Ausland war von „Deutschlands umstrittenster Tafel“ die Rede. Sartor wurde Diskriminierung und Rassismus vorgeworfen.

Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine stieg die Zahl der Tafelkunden im vergangenen Jahr an.
Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine stieg die Zahl der Tafelkunden im vergangenen Jahr an. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Im vergangenen Jahr sah man sich am Wasserturm an der Steeler Straße dazu gezwungen, im Juli einen generellen Aufnahmestopp auszurufen. Den gibt es zwar mittlerweile nicht mehr, trotzdem sei der organisatorische Aufwand für die Tafel-Mitarbeiter seitdem gestiegen.

Aktuell sieht es so aus: Wer sich seit dem 25. Juli um eine Neuaufnahme bewirbt, muss ein Antragsformular im Internet herunterladen und per E-Mail oder Brief an die Tafel schicken (www.essener-tafel.de). Der Vorstand der Einrichtung an der Steeler Straße stellt klar, dass aktuell „bevorzugt Alleinerziehende und Rentner mit Grundsicherungsbescheid“ neu aufgenommen werden.

Neuanmeldungen bei der Tafel Essen: Situation nagt an Jörg Sartor

Nicht nur die angespannte Situation rund um die Neuanmeldungen nagt an Jörg Sartor. Zunehmend fassen den Mann mit der Pelle eines Stahlschranks auch kleinere Reibereien an. Konnten sich Kunden früher quasi aussuchen, welche Verteilstelle sie im Stadtgebiet aufsuchen möchten, werden sie nun zugewiesen – „Tauschen“ sei nicht mehr möglich, so Sartor. Das habe er kürzlich einem Familienvater erklären wollen, der ihn daraufhin beschimpft und von „Pflicht“ und „Unverschämtheit“ gesprochen habe.

All diese kleinen und großen Dinge drücken auf Sartors Schultern. Dabei weiß er eigentlich ganz genau, wie sich die Situation der Essener Tafel schlagartig verbessern könnte. Es bräuchte einen Umzug, weg vom Wasserturm an der Steeler Straße, hin zu einem geeigneteren Standort. Daran arbeitet Sartor schon seit „12 bis 13 Jahren“ – was ebenfalls an ihm nagt. In der Vergangenheit habe man auch mit namhaften Maklern zusammengearbeitet, die sich zuversichtlich gezeigt hätten. Aber: „Es will keiner die Tafel in der Nähe haben.“

Tafel Essen ist auf der Suche nach einem geeigneteren Standort

Die Stadt Essen hat der Tafel zuletzt einen ehemaligen Verwaltungsbau im Ostviertel als neue Bleibe angeboten. 1000 Quadratmeter im Erdgeschoss könnte die Einrichtung dort nutzen, weitere 1000 Quadratmeter im Keller. Die Tafel selbst sei bereit, eine hohe Summe in den Innenausbau des ehemaligen Leihamtes investieren. Einen neuen Stand gebe es im Vergleich zum Januar aber noch nicht. Sartor sagte, er habe kürzlich den Oberbürgermeister darauf angesprochen, der sich kümmern wolle.

Die Besichtigung eines Gebäudes der neuapostolischen Kirchengemeinde in Frohnhausen Anfang des Jahres sei nicht vielversprechend gelaufen. „Das wäre eine Notlösung“, sagt Sartor. Mit Blick auf den Wasserturm an der Steeler Straße ergänzt er: „Und wir haben schon eine Notlösung.“ Wenn man sich verändere, dann bitte auch so, dass es Sinn macht. Essens Tafelchef ist sich sicher, dass durch einen Umzug in ein geeigneteres Gebäude „30 bis 40 Prozent mehr Menschen mit gleichem personellen Aufwand“ versorgt werden könnten. Optimal wäre ein ehemaliger „Aldi- oder Lidl-Laden“.

Ein Gebäude mit Parkplatz in Verbindung mit guter Anbindung an Bus und Bahn – da kommt Jörg Sartor sogar richtig ins Schwärmen. Allein: Nichts dergleichen sei auf dem Markt, also unrealistisch. Noch so etwas, was auf die Gemütslage des 67-Jährigen drückt, der als Bergmann mit 49 Jahren in Rente gegangen ist und sich seitdem für die Tafel aufreibt.

Jörg Sartor will eigentlich mit 70 Jahren die Tafel Essen übergeben

„Mein Lebensziel war es eigentlich, das Ganze mit 70 Jahren zu übergeben“, sagt er. Ob die Kraft bis dahin aber überhaupt noch reicht? Und wer soll dann das Steuer übernehmen, wenn der Kapitän von der Brücke geht? „Ich habe den Mitgliedern gesagt, dass sie sich um jemand anderes kümmern müssen“, sagt Sartor über einen möglichen Nachfolger. „Vom Können her, könnten das 70 Prozent der Mitglieder.“ Sartor weiß aber um seine großen Fußstapfen und sagt: „Ich bin ja auch so ein Tafel-Fürst.“

Der notgedrungen dann vielleicht doch noch länger machen wird, als er will. Kraft hin oder her.

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