Essen. Ein Jahr nach dem erfolgreichen Streik für mehr Personal sind Kräfte der Uniklinik Essen ernüchtert. Fachpersonal sei rar, kontert die Klinik.

77 Tage haben sie im vergangenen Jahr für einen Tarifvertrag „Entlastung“ gestreikt, auf unhaltbare Zustände im Krankenhausalltag aufmerksam gemacht und mehr Personal gefordert: Als sie sich am Ende durchsetzten, war die Erwartung bei den Beschäftigten der Uniklinik Essen (und der fünf anderen Unikliniken in NRW) groß.

Ein Jahr später, sagt die Gewerkschaft Verdi, der Vertrag werde nur schleppend umgesetzt, die Bilanz sei bisher „ernüchternd“: Die meisten der versprochenen Stellen seien noch unbesetzt.

Schichten auf der Intensivstation seien knapp besetzt

In einer Schicht seien sie in der Regel zu siebt oder acht, berichtet etwa Intensivpfleger Alexander Bujotzek. „Es müssten allerdings in jeder Schicht zehn sein.“ Er ist auf der „Herz Intensiv“ im Einsatz, betreut also zum Beispiel Patienten nach Herz- und Lungentransplantationen. Schwerstkranke Menschen, die eine hoch spezialisierte Betreuung benötigen. Doch bei der aktuellen Besetzung geschehe es, dass eine Patientin aus einer Operation erwache und niemand sei bei ihr. „Sie hat noch Beatmungsschlauch, ist ganz allein – das kann Panik auslösen.“ Oder gar ein Delir, bei dem der Patient in eine lebensgefährliche Situation geraten könne.

„Ich mache meinen Job gern, ich würde ihn gern besser machen können“, sagt Bujotzek. Auf die versprochene Entlastung wartet er noch. Er arbeitet auf einer vollen Stelle und ist damit eine Ausnahmeerscheinung. Wegen der schwierigen Arbeitsbedingungen reduzierten viele Kollegen ihre Arbeitszeit auf 70 bis 80 Prozent. Um Lücken zu schließen, seien in seinem Bereich inzwischen 16 Zeitarbeitskräfte tätig. „Die sind sehr gut qualifiziert, aber nicht mit allen Gegebenheiten so vertraut wie die festen Kräfte. Es gibt trotzdem Schichten, bei denen keiner vom Stammpersonal dabei ist.“

Fachkräfte bekommen jetzt Entlastungstage

Ähnlich schildert das auch Caroline Heitmann, die als Krankenpflegerin in der unfallchirurgischen Notaufnahme arbeitet. Zwei bis drei Kollegen arbeiten hier pro Schicht, sieben sollten es jeweils sein. „Wenn zwei im Schockraum sind, ist keine Pflegekraft in der Notaufnahme, wo Herzinfarkt- oder Schlaganfallpatienten ankommen.“

Auszubildende sollen besser angeleitet werden

Der Tarifvertrag Entlastung sieht eine IT-gestützte Dokumentation der tatsächlichen Belastung am Arbeitsplatz vor. Krankenpflegerin Caroline Heitmann kritisiert, „dass sich unser Arbeitgeber offenbar anderthalb Jahre Zeit lässt, dies umzusetzen“. Dazu sagt der Ärztliche Direktor der Uniklinik Jochen A. Werner, dass laut Tarifvertrag für die elektronische Dokumentation ebenso wie für die Neubesetzung von Stellen „Übergangsfristen gelten“.

Werner weist auch darauf hin, dass die Uniklinik Personalentwicklungsmöglichkeiten und Fortbildungen biete. Zu den Errungenschaften des Tarifvertrags gehöre außerdem „mehr persönliche Anleitung für Auszubildende im Praxiseinsatz“. Die Ausbildung sei ein Lichtblick, hier hätten sich die Bedingungen schon verbessert, bestätigt die Medizinische Fachangestellte Franziska Kaiser.

Angesichts der hohen Verantwortung fühlen sich viele Pflegekräfte auch psychisch hoch belastet. „Aber auch in der Verwaltung eines Krankenhauses können Verzögerungen schwerwiegende bis lebensbedrohliche Folgen haben“, betont die Medizinische Fachangestellte, Franziska Kaiser. So wenn die Mail eines Patienten mit Gehirntumor eine Woche ungelesen bleibe oder das Rezept für die Chemotherapie nicht umgehend eingelöst und das Medikament versandt würde. So etwas geschehe, weil ihre Abteilung personell oft nur zu 50 bis 70 Prozent besetzt sei. Dabei ist im vergangenen Jahr auch für die nicht-pflegerischen Kräfte gestreikt worden.

Zu denen zählt auch Einkäufer Björn Steinberg, der alles „vom Verbandsmaterial bis zum Implantat besorgt“. Weil es oft Lieferengpässe gebe, betreibe sein Team einen massiven Mehraufwand. 360 Überstunden haben sie derzeit zu viert angehäuft. „Wir brauchen mehr Leute. Diese Situation macht Kollegen krank.“

Der vor einem Jahr vereinbarte Tarifvertrag beinhaltet eine Sanktion für den Fall, dass die Unikliniken die personelle Aufstockung nicht leisten: Für die überlasteten Beschäftigten gibt es dann Entlastungstage. Werden die genommen, verschärfe sich jedoch die Situation für die verbliebenen Kollegen, erklärt die Gewerkschaft Verdi.

„Kein Tarifvertrag Entlastung ändert etwas daran, dass in vielen Berufsgruppen gut ausgebildetes Personal kaum verfügbar ist“, sagt Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor der Uniklinik Essen.
„Kein Tarifvertrag Entlastung ändert etwas daran, dass in vielen Berufsgruppen gut ausgebildetes Personal kaum verfügbar ist“, sagt Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor der Uniklinik Essen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

30 neue Stellen seien an der Uniklinik geschaffen worden, bisher sei lediglich eine einzige besetzt, kritisieren Franziska Kaiser und ihre Kollegen. „Bei dem im Tarifvertrag (...) vereinbarten Aufbau von 30 Vollzeitkräften haben wir uns mit den Arbeitnehmervertretern weitgehend darauf geeinigt, wo und in welchem Umfang der Stellenaufbau stattfinden soll“, sagt dazu der Ärztliche Direktor der Uniklinik, Prof. Dr. Jochen Werner. In vielen Bereichen liefen nun die Ausschreibungen oder Stellenbesetzungen seien „in Vorbereitung“.

Klinikdirektor: Fachpersonal ist schwer zu finden

Prof. Werner weist auch darauf hin, dass vereinbart worden sei, den Tarifvertrag stufenweise und mit Übergangsfristen umzusetzen. Auch müsse man die „angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt“ berücksichtigen. Die Uniklinik werbe mit einer Vielzahl von Aktivitäten um Fachpersonal. Aber: „Kein Tarifvertrag Entlastung ändert etwas daran, dass in vielen Berufsgruppen gut ausgebildetes Personal kaum verfügbar ist.“ Übrigens unternehme man auch „große Anstrengungen“, um die vorhandenen Fachkräfte zu halten.

Das sehen die Betroffenen oft anders. „Ich kenne mindestens fünf Kollegen, die sofort wieder 100 Prozent arbeiten würden, wenn die Bedingungen besser wären“, sagt Alexander Bujotzek. Auch gebe es für manche Arbeitsbereiche der Uniklinik durchaus Fachpersonal, ergänzt Franziska Kaiser. „Nicht immer handelt es sich um Fachkräftemangel – manchmal haben wir es mit Arbeitsflucht zu tun.“ Die lasse sich nur verhindern, wenn der Arbeitsplatz wieder attraktiver werde.

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