Essen. Die jüngste Bilanz des Essener Staatsschutzes zeigt: Über die Hälfte politisch motivierter Straftaten wird der rechten Szene zugerechnet.
Weniger extremistische Straftaten, eine überdurchschnittlich gute Aufklärungsquote und der Befund, dass sich die rechte Szene, auf deren Konto die mit Abstand meisten staatsschutzrelevanten Delikte gehen, in Essen nach wie vor nicht etablieren konnte. Dies sind einige Schlaglichter aus der Bilanz zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) des vergangenen Jahres, die die Polizei Essen veröffentlicht hat.
Darunter waren zwei herausragende Kriminalfälle, die sogar für internationale Schlagzeilen sorgten: Der im mutmaßlich letzten Moment vereitelte Sprengstoff-Amoklauf eines 17-Jährigen am Borbecker Don Bosco-Gymnasium und der Anschlag auf das Rabbinerhaus neben der Alten Synagoge in der Innenstadt. Der Jugendliche ist inzwischen zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Nach den Schüssen auf die jüdische Einrichtung ermittelt der Generalbundesanwalt.
Insgesamt kam es im Jahr 2022 im Zuständigkeitsbereich der Polizei Essen als Kriminalhauptstelle zu insgesamt 414 Straftaten, die als politisch motiviert eingestuft worden sind. Das waren 15 Prozent Delikte weniger als im Jahr zuvor. 262 davon ereigneten sich in Essen, 82 in Mülheim und 70 in Oberhausen.
Bei der politisch motivierten Kriminalität war auch körperliche Gewalt im Spiel
235 und damit die mit Abstand meisten Verfahren rechnen die Ermittler der rechten Szene, 72 dem linken Spektrum zu. 25 gelten als ausländisch und zwei Delikte als religiös-ideologisch motivierte Straftaten. Rund 80 Sachverhalte waren keiner dieser Kategorien zuzuordnen.
In 13 Fällen war bei der politisch motivierten Kriminalität körperliche Gewalt im Spiel. Zu sieben dieser Straftaten, bei denen es sich in der Mehrzahl um Körperverletzungsdelikte durch Mitglieder des rechten Spektrums handelte, kam es allein in Essen. Im Jahr zuvor waren es noch vier Mal so viele.
Als positive Tendenz gegen den Landestrend bezeichnen Essens Staatsschützer neben der geringeren Zahl von Delikten insgesamt einen Rückgang von rund zehn Prozent bei der sogenannten PMK-Rechts. Weder Kleingruppen noch Einzelpersonen sei es gelungen, sich zu organisieren, heißt es. Erfreulich sei auch die im Landesvergleich um elf Prozent höhere Aufklärungsquote der Essener Behörde von rund 77 Prozent der Gewaltstraftaten insgesamt.
Ein Ausreißer bei den ausländisch motivierten Vergehen
Zum Vergleich: Landesweit verübten Rechtsextremisten im vergangenen Jahr 3453 politisch motivierte Straftaten - ein Plus von zehn Prozent. Besonders im Fokus der Verfassungsschützer sind die sogenannten Reichsbürger. 3400 Menschen werden dieser Bewegung in NRW zugerechnet. Von ihnen gehe ein „erhebliches Gefahrenpotenzial“ aus.
Auf dem Kieker haben die Behörden nach wie vor auch die „Steeler Jungs“, die sie neben der Bruderschaft Deutschlands als die „wichtigste Gruppierung“ innerhalb der rechtsextremistischen Mischszene NRWs bezeichneten. Doch die früher häufigen „Spaziergänge“ mit Versammlungscharakter seien inzwischen Treffen kleinster Gruppen im Stadtteil gewichen, hieß es zuletzt seitens der Polizei.
Einen Ausreißer notiert der Bericht der Essener Behörde bei den ausländisch motivierten Vergehen: Auch wenn der Sprung von neun auf 25 Taten in absoluten Zahlen nach wie vor überschaubar ist, bedeutet diese Zunahme dennoch eine Steigerung um 64 Prozent. „Hier spielen unter anderem der Ukraine-Krieg, der Nahost-, aber auch der Kurdenkonflikt eine zentrale Rolle“, so die Ermittler. Es sei in diesem Zusammenhang zu Beleidigungen, Nötigungen, Bedrohungen und Sachbeschädigungen gekommen.
Salafisten und Islamisten werben um Nachwuchs
Für zwei Straftaten war im vergangenen Jahr religiöse Ideologie der Nährboden, elf waren es noch im Jahr zuvor. Für das Polizeipräsidium bedeutet diese Entwicklung jedoch kein Grund zur Entwarnung. Denn Salafisten und Islamisten seien nach wie vor aktiv, umwerben auf Straßen, im Internet und über soziale Medien insbesondere Jugendliche und Heranwachsende, so der Staatsschutz. Die Polizei ermittle offen, aber auch verdeckt gegen deren Umtriebe.
Ein Problem seien auch rückkehrende Jihadisten und deren Ehefrauen mit ihren oftmals traumatisierten Kindern. Deshalb initiiere, unterstütze und begleite die Essener Polizei vielfältige präventive Initiativen wie das Projekt „Wegweiser“ zur Bekämpfung des gewaltorientierten Salafismus, um zu verhindern, dass junge Menschen Extremisten in die Hände fallen. Das allerdings funktioniere nicht ohne die Zusammenarbeit mit kommunalen Stellen, Schulen aber auch nichtstaatlichen Organisationen wie Moscheevereinen und Trägern der Sozial- und Jugendarbeit.