Essen. Sportvereine nehmen sich in einem Modellprojekt eines Tabus-Themas an: sexueller Gewalt. Der Essener Sportbund setzt auf Schneeballeffekt.

Jan Hempel spricht von einem Rucksack, den er mit sich herumschleppte. Der frühere Weltklasse-Wasserspringer war über Jahre von seinem damaligen Trainer sexuell missbraucht worden. Hempel machte den Missbrauch öffentlich und warf damit ein Schlaglicht auf ein Tabu-Thema: sexuelle Gewalt im Sport.

Was bedeutet sexuelle Gewalt? Nicht immer müssen Übergriffe wie im Fall Hempel in Vergewaltigungen münden. Sexuelle Gewalt kann subtil sein. Ein Blick, ein Handgriff als Hilfestellung – gut gemeint oder doch getarnt? – an einer intimen Stelle… Die Grenzen sind fließend. Das zu erkennen macht es schwierig für Sportler, Übungsleiter, Trainer und auch Offizielle.

Nach einem Jahr zogen Initiatoren und Beteiligte des Modellprojektes Bilanz

Zehn Essener Sportvereine haben sich mit finanzieller Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung dem Thema in einem Modellprojekt gestellt. Nach einem Jahr zog die Stiftung gemeinsam mit dem Essener Sportbund (Espo) und beteiligten eine positive Bilanz.

Petra Fischer vom Essener Sportbund (Espo) berichtet nach einem Jahr Modellprojekt von ihren Erfahrungen.
Petra Fischer vom Essener Sportbund (Espo) berichtet nach einem Jahr Modellprojekt von ihren Erfahrungen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

„Was ist überhaupt sexuelle Gewalt?“ Diese Frage galt es zu klären, berichtet Petra Fischer vom Espo. Die Antwort kann sehr individuell sein. Die einen empfinden eine Berührung als Grenzüberschreitung, andere wollen in den Arm genommen werden, brauchen Trost und Aufmunterung, wenn die sportliche Leistung hinter den eigenen Erwartungen zurückgeblieben ist. Wie damit umgehen? In Vereinen gebe es eine große Unsicherheit, so Petra Fischer. Niemand wolle in einen falschen Verdacht geraten.

Die öffentliche Wahrnehmung von sexueller Gewalt hat sich verändert

Mit dem Formulieren eines Ehrenkodex oder einer Satzung ist es nicht getan. Es gilt Vereine und Aktive zu sensibilisieren, damit es erst gar nicht zu Grenzüberschreitungen kommt. Der erste Schritt: Darüber reden. Die öffentliche Wahrnehmung sexueller Gewalt im Sport, aber nicht nur dort, hilft. „Wir schauen genauer hin“, sagt Jochen Sander, Vorsitzender.

Zogen gemeinsam eine erste Bilanz: Jörg Ludwig, 1. Vorsitzender der MTG Horst, Volker Troche, Sprecher des Vorstandes der Krupp-Stiftung,, Petra Fischer (Espo), Andreas Seifert (Krupp-Stiftung), Dunja Rüping, Abteilungsleiterin Volleyball bei der MTG Horst, Tobias Papies, stellv. sportlicher Leiter und Kinderschutzbeauftragter im DJK Franz Sales Haus, Jochen Sander, 1. Vorsitzender des Espo, und Thorsten Flügel, Geschäftsführer des Espo.
Zogen gemeinsam eine erste Bilanz: Jörg Ludwig, 1. Vorsitzender der MTG Horst, Volker Troche, Sprecher des Vorstandes der Krupp-Stiftung,, Petra Fischer (Espo), Andreas Seifert (Krupp-Stiftung), Dunja Rüping, Abteilungsleiterin Volleyball bei der MTG Horst, Tobias Papies, stellv. sportlicher Leiter und Kinderschutzbeauftragter im DJK Franz Sales Haus, Jochen Sander, 1. Vorsitzender des Espo, und Thorsten Flügel, Geschäftsführer des Espo. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Das führt bestenfalls dazu, dass es gar nicht zu Übergriffen kommt. Welche Warnsignale gibt es? Wo finden Vereine Rat und Hilfe? Auch darum ging es in dem Projekt, das Anstöße geben will. So wird die MTG Horst, Essens mitgliederstärkster Breitensportverein, Übungsleiterinnen und Übungsleiter schulen.

Sensibilität sei auch bei Eltern gefordert, betont Petra Fischer. Ein Beispiel: Muss ein Vater, der sein Kind zum Schwimmunterricht bringt, auch unbedingt mit in die Umkleidekabine gehen?

Jeder Verein wird von der Krupp-Stiftung mit 3000 Euro gefördert

Das Modellprojekt soll nur ein Anfang sein. Zehn weitere Vereine werden folgen, denn die Stiftung setzt ihre Förderung für ein weiteres Jahr fort, kündigte Vorstandssprecher Volker Troche an. 3000 Euro gibt es pro Verein. In der nächsten Runde soll die Perspektive von Kindern und Jugendlichen mehr im Fokus stehen, so Petra Fischer. Dann sollen diejenigen zu Wort kommen, um deren Schutz es geht.

Espo-Vorsitzender Jochen Sander setzt auf einen Schneeballeffekt. Darauf, dass sich weitere der insgesamt 445 Sportvereine unter dem Dach des Espo dem Thema sexuelle Gewalt stellen werden. „Was in der Gesellschaft passiert, passiert auch im Sport“, betont Sander. Wegsehen gilt nicht.