Essen. Archäologen haben Essens Wandel in den vergangenen 100 Jahren anhand von Luftbildern dokumentiert. Das gibt es zu sehen.
Die Welt um uns herum verändert sich ständig. Um das besser zu verstehen, empfiehlt es sich zuweilen Abstand zu gewinnen und die Dinge aus der Distanz zu betrachten. Nach diesem Prinzip sind Detlef Hopp und Baoquan Song verfahren. Essens ehemaliger Stadtarchäologe und der Bochumer Luftbildarchäologe sind abermals in einer Cessna aufgestiegen, um Essen im Wandel anhand von Luftbildern zu beschreiben. Band 2 der Reihe widmet sich den Lebensräumen und der Infrastruktur dieser Stadt.
Einmal mehr kam den beiden Archäologen zugute, dass Essen anhand von Luftbildern bestens dokumentiert ist. Die ersten Aufnahmen wurden bereits vor mehr als 100 Jahren erstellt, damals aus einem Zeppelin heraus. In den 1920er Jahren wurde die Stadt dann erstmals systematisch und vollständig abgeflogen und dokumentiert. Schon diese frühen Aufnahmen zeichneten sich durch eine hohe Qualität aus, so Hopp.
Archäologen konnten auf Luftaufnahmen der Alliierten aus dem Krieg zurückgreifen
Während des Zweiten Weltkriegs schossen die Alliierten eifrig Luftbilder von den Krupp-Werken, die sie als Ziel für ihre Bomber ausgeguckt hatten. Die Fotografien wurden lange Jahre unter Verschluss gehalten, berichtet Detlef Hopp, der auf diesen Fundus zurückgreifen konnte. Auch in den 1950er und 1960er Jahren stiegen Piloten regelmäßig für Luftbildaufnahmen über Essen auf.
So fliegt der Betrachter der Bilder im Geiste 1926 über die Essener Innenstadt, sieht unter sich die Kruppstadt und den kruppschen Schießplatz im Jahr 1943 und blickt 1956 herab auf die Kaserne der britischen Rheinarmee über der Ruhr bei Kupferdreh. Beim Durchblättern der 86 Seiten unternimmt der Leser eine Reise in die Vergangenheit.
Den historischen Aufnahmen haben die Autoren Luftbilder aus späteren Jahren gegenübergestellt und jene die bei ihren gemeinsamen Flügen entstanden sind. Das Amt für Geoinformation und Kataster öffnete sein Luftbildarchiv und lieferte die notwendigen Koordinaten. So entstand ein Bild der Stadt, „unverblümt und unverfälscht“ wie es Detlef Hopp nennt, der bei der Draufsicht selbst überrascht ist, wie rasend schnell sich Essens Wandel innerhalb von Jahrzehnten vollzogen hat.
Die Autoren machen Essens Wandel mit Hilfe von 3D-Bildern anschaulich
Aus dem Großmarkt wurde Essens „Grüne Mitte“, aus der Kaserne über der Ruhr das Neubaugebiet Dilldorfer Höhe, aus der Bundesstraße 1 die A 40.
Der Clou: Die Macher von „Essen im Wandel“ haben Bilder übereinander gelegt, sodass ein dreidimensionaler Effekt entsteht. Die nötige 3D-Brille gibt es zum Band dazu. Das wirkt etwas aus der Zeit gefallen, liefert aber detaillierte Eindrücke etwa von den Zerstörungen, die alliierte Luftangriffe im Jahr 1943 in der Essener Innenstadt anrichteten.
Manches erschloss sich selbst den Autoren erst auf den zweiten Blick. So war Detlef Hopp nach eigenen Worten erschüttert, als er Luftaufnahmen des damaligen Zwangsarbeiterlagers an der Humboldtstraße in Fulerum unweit des heutigen Rhein-Ruhr-Zentrums betrachtete und diese verglich mit Luftbildern der Siedlung, die an dieser Stelle in den 1960er gebaut wurde.
Wohnsiedlung erinnert an ehemaliges KZ-Außenlager in Essen
Bei dem Lager handelte es sich im Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Neben Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen waren an der Humboldstraße auch KZ-Häftlinge untergebracht, darunter 520 jüdische Frauen.
Was den Stadtarchäologen bei der Ansicht der Luftaufnahmen erschüttert: Die Anordnung der Mehrfamilienhäuser, in die in den 1960er Jahren Beschäftigte von Krupp einzogen, erinnert aus der Vogelperspektive auf bedrückende Weise an die Baracken des einstigen KZ-Außenlagers. In Essen sei man nicht immer sensibel mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges umgegangen, urteilt Detlef Hopp.
„Essen im Wandel“ widmet sich als nächstes den Burgen und Kirchen der Stadt
Wer sich selbst ein Bild machen will: „Essen im Wandel – 100 Jahre Luftbilder“ (Band II) ist im Amt für Geoinformation, Vermessung und Kataster gegen Übersendung eines rückadressierten Freiumschlags (DIN A4, Porto 1,60 Euro) erhältlich. Dort gibt es auch Band I, der sich den Produktionsstätten der Schwerindustrie widmet – inzwischen in einer zweiten Auflage. Interessierte finden die historischen Luftbilder auch im Historischen Portal unter https://geoportal.essen.de/histverein/hipo/. Eine 3D-Brille muss man sich zum Betrachten allerdings erst basteln.
Detlef Hopp und sein Kollege Baoquan Song arbeiten bereits an zwei weiteren Bänden. Diese, verrät der ehemalige Stadtarchäologe werden sich Essens Burgen und Kirchen widmen. Band 3 soll Mitte des Jahres erscheinen.