Essen. Lebensecht aussehende Sex-Puppen erobern manche Schlafzimmer. Einige Männer ziehen die Puppe einer echten Partnerin vor. Forscher fragten: Warum?

Ein Psychiater und eine Psychologin der Uni Duisburg-Essen haben ein nicht ganz alltägliches Forschungsthema untersucht: Es geht um Sex-Puppen – aber nicht um billige Gummi-Modelle zum Aufblasen, sondern solche aus Silikon, die echten Menschen extrem ähnlich sehen. Diese „Real Dolls“ kosten gut und gerne mehrere Tausend Euro und können mit „Künstlicher Intelligenz“ ausgerüstet werden – fürs Sprechen, das „Atmen“ und vereinzelte Bewegungen.

Psychiater: „Dass manche Menschen mit Maschinen glückliche Beziehungen führen, wird normal werden“

„Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass es normal wird, dass manche Menschen mit Maschinen glückliche Beziehungen führen“, sagt Johannes Fuß, der das Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung der LVR-Universitätsklinik Essen leitet. Er hat die internationale Studie, in der etwa 200 Männer und Frauen zwischen 18 und 77 Jahren befragt wurden, die eine solche Puppe besitzen, gemeinsam mit der Psychologin Jeanne Desbuleux-Rettel durchgeführt.

Herr Fuß, Frau Desbuleux-Rettel, wie kommt man auf ein solches Forschungsthema?

Jeanne Desbuleux-Rettel: Wir haben es mit der dritten Technologisierungs-Welle in der Sexualität zu tun. Die erste beinhaltete die ständige Verfügbarmachung von Pornografie durch das Internet. Die zweite war die Möglichkeit, Sexualität durch Technologie zu erleben, also sich beispielsweise zum Sex übers Internet zu verabreden. Die dritte Welle beinhaltet nun Sex mit Technologie – die sogenannten „Real Dolls“. Man geht davon aus, dass Corona die Nachfrage nach diesen Puppen erheblich beflügelt hat. Außerdem ist es seit jeher Aufgabe der Sexualwissenschaft, sexuelle Minderheiten zu entstigmatisieren, also gegen Vorurteile anzugehen, indem wir aufklären.

Johannes Fuß: Überlegt man sich, welch großen Einfluss die ersten beiden Wellen der Technologisierung des Sexuellen hatten, hat man eine Idee davon, welche Umbrüche uns noch bevorstehen.

Warum kauft sich jemand eine solche Puppe?

Jeanne Desbuleux-Rettel: Wir haben festgestellt, dass die Gruppe der Nutzer und Nutzerinnen total heterogen, also unterschiedlich ist. Es gibt Menschen, die benutzen solche Puppen allein als Sex-Spielzeug. Andere imitieren mit einer solchen Puppe Partnerschaft. Fahren mit der Puppe in den Urlaub, frühstücken mit ihr, kleiden sie unterschiedlich ein, um sie zu fotografieren und kuscheln auch mit der Puppe. Es gibt also viele individuelle Gründe, sich eine solche Puppe zu kaufen.

Warum leben Menschen mit einer Puppe zusammen?

Johannes Fuß: Wir konnten herausfinden, dass oft jene Männer eine Beziehung mit einer Puppe führen, die zuvor von Beziehungen mit Menschen enttäuscht wurden und deshalb mit keinem realen Menschen mehr eine Beziehung eingehen möchten. Je stärker jemand sich innerlich von Menschen abwendet, desto mehr ist er bereit, Gefühle für eine Puppe zu entwickeln. Offen bleibt, ob es für diese Menschen ein einzigartiges Geschenk ist, eine Puppe zu lieben, oder ein Ausdruck von unendlicher Einsamkeit.

„Uns stehen große Umbrüche bevor in der Frage, wie Menschen ihre Beziehungen leben werden“: Johannes Fuß, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung der LVR-Universitätsklinik Essen (links), und Psychologin Jeanne Desbuleux-Rettel.
„Uns stehen große Umbrüche bevor in der Frage, wie Menschen ihre Beziehungen leben werden“: Johannes Fuß, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung der LVR-Universitätsklinik Essen (links), und Psychologin Jeanne Desbuleux-Rettel. © LVR-Universitätsklinik Essen | MATILDA SCHÖN

Geht es denn nur um Männer?

Jeanne Desbuleux-Rettel: Fast ausschließlich. Es gibt aber auch Frauen oder non-binäre Menschen, die sich männliche oder weibliche Puppen anschaffen.

Gibt es Kritik an solchen Puppen?

Johannes Fuß: In der Ethik gab und gibt es eine Debatte, ob solche Puppen Frauenfeindlichkeit fördern. Manche fordern sogar ein Verbot solcher Puppen.

Und? Fördern solche Puppen Frauenfeindlichkeit?

Jeanne Desbuleux-Rettel: Das konnten wir mit unserer Studie nicht feststellen. Die meisten Teilnehmenden gaben an, dass sich ihr Bild von Frauen nicht verändert hat. Manche beschrieben, mit solchen Puppen das Zusammenleben, auch den Sex, mit einer Frau überhaupt erst mal üben zu können und dabei Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir fanden auch frauenfeindliche Aussagen und Einstellungen, aber die würden wir sicherlich auch in anderen Personengruppen finden.

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Muss man es wirklich normal finden, dass Menschen derart sexualisierte Puppen als Ersatz für eine Partnerschaft nutzen?

Jeanne Desbuleux-Rettel: Wir leben in einer Kultur, die ein sexualisiertes Frauenbild normal findet. Die normal findet, dass Frauen häufig weniger Geld verdienen als Männer und in vielen Bereichen des Lebens weiter benachteiligt werden, der Frauenkörper als Sex-Objekt vermarktet wird. Diese Puppen sind nur ein Spiegel unserer Gesellschaft. Nicht der einzelne Nutzer von Sexpuppen bewirkt ein solches Frauenbild, sondern die Gesellschaft als Ganzes.