Essen. Gut 80 Jahre nach dem Tod ihrer jüdischen Besitzerin kehrt ein schmuckes Accessoire für eine Ausstellung in Essen zurück. Nein, kein Happy End.
Was sie da wohl immer mit sich herumgetragen hat? Ein paar Reichsmark und -pfennige ganz sicher. Ein Etui mit Zigaretten womöglich – wenn sie denn rauchte. Dazu eine Zigarettenspitze, einen Lippenstift, was zu schreiben, kann sein. Auch eine Sicherheitsnadel oder Taschentücher. Solche Sachen halt, die Frau griffbereit haben will, wenn sie sich mit dem Gatten etwa in Wolffs Colosseum am Kopstadtplatz einen schönen Abend gönnt.
Das Essener Colosseum, es war in den „goldenen“ 1920er Jahren eines der bekanntesten Revue- und Operettentheater im Westen Deutschlands – ein prachtvoller Bau mit Marmortreppen in der Wandelhalle und vergoldetem Bogen über der Eingangs-Kuppel, mit gut 3000 Plätzen und mehr als 400 Veranstaltungen im Jahr. Vielleicht nicht so verrucht wie das Moka Efti in der Serie „Babylon Berlin“, vielleicht nicht mit einem so berauschten, dekadenten Publikum ausgestattet, aber allemal der richtige Ort für eine Rüttenscheiderin, eine feingliedrige Silbernetz-Abendtasche mit Fransen aus kleinen Metallringen auszuführen.
Auf den Spuren jüdischen Lebens in Essen
Die Ausstellung „16 Objekte“ mit Leihgaben der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist voraussichtlich ab Anfang März bis Ende Mai in Halle 8 auf dem Welterbe Zollverein zu sehen.
Ein umfangreiches Rahmenprogramm zur Ausstellung wollen der Freundeskreis Yad Vashem e.V., die Alte Synagoge in Essen und die Stiftung Zollverein anbieten.
In einer Vortragsreihe geht es dabei etwa um die Erinnerungskultur im Wandel der Zeit, es soll Führungen geben sowie Spaziergänge auf den Spuren jüdischen Lebens.
Ein schmuckes Silbernetz-Täschchen, an dem Blut klebt
Ob es wirklich Silber war, können demnächst die Besucher einer Ausstellung auf dem Welterbe Zollverein durch Plexiglasscheiben erkunden. Aber vielleicht verlieren sie vorher schon jede Lust an solcherlei Materialkunde, wenn sie erfahren, dass an diesem Abendtäschchen, wenn auch „nur“ im übertragenen Sinne, Blut klebt.
Denn das schmucke Stück, das im Online-Auktionshaus Ebay heute vielleicht in der Rubrik Mode-„Accessoires“ seinen Käufer finden würde, „vintage, gebraucht und gut erhalten“, es gehörte einst Jenni Bachrach, geborene Rosendahl: einer Essener Jüdin, die gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Möbelfabrikanten Hermann Bachrach, in der Moorenstraße nahe der Gruga lebte. Ein kinderloses Paar, das versuchte, den Nazis und ihrem Verfolgungs-Wahn auszuweichen, damit letztlich scheiterte und im April 1942 ins Ghetto Izbica deportiert wurde, einer der Durchgangsstationen für das Vernichtungslager Belzec an der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze.
Nicht nur Stolpersteine blank wienern, sondern fantasieren: Was wäre, wenn...
Wenn die SS richtig gezählt hat, dann wurden allein dort zwischen März und Dezember 1942 exakt 434.508 Menschen ermordet. Die Bachrachs vermutlich darunter.
Was bleibt einem da vor lauter Sprachlosigkeit, als an diesem 27. Januar, dem Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust, die beiden in der Moorenstraße verlegten Stolpersteine mal wieder blank zu wienern und damit die Erinnerung wachzuhalten, jetzt erst recht?
Vielleicht dies: sich vorzustellen, was wohl wäre, hätte es diesen Mordrausch der Nationalsozialisten nicht gegeben. Sich Geschichten auszudenken über Jennis Abendtasche und das Klavier der Familie Margulies aus Chemnitz, über das Poesiealbum von Lilo Ermann aus Saarbrücken oder das hölzerne Stethoskop von Professor Hermann Zondek aus Berlin.
Es sind dies vier von 16 Objekten aus dem Fundus der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, die vom Verschwinden des jüdischen Alltags in Nazi-Deutschland erzählen, wo sie zuvor wie selbstverständlich Teil der Gesellschaft waren.
Die 16 Objekte kommen aus unterschiedlichen Städten und stehen für die 16 Bundesländer des heutigen Deutschlands. Als Leihgaben von Yad Vashem gehen sie in diesem Jahr, dem 70. seit Gründung der Gedenkstätte, erstmals ins Land ihrer Besitzer zurück, das ja auch das Land ihrer Mörder ist: eine „neue Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, formuliert der Freundeskreis von Yad Vashem, auch wenn es manchen arge Überwindung kosten mag, sie zu beschreiten. In diesen Tagen sind die Gegenstände im Deutschen Bundestag zu sehen, wo sie bis Mitte Februar ausgestellt bleiben. Und im März dann für einige Wochen auf dem Welterbe Zollverein.
Es ist ein Rückkehr auf Zeit ohne Happy End. Hier in Essen war die gutsituierte Familie mit ihrem Möbelhaus Rosendahl & Bachrach eine eingeführte Marke, die Fabrik in Kray auf Wachstum gepolt. Doch als beim Novemberpogrom 1938 auch die Essener Synagoge in Brand gesetzt wurde, die „Arisierung“ fortschritt, und die Bedrohung von Tag zu Tag wuchs, nahm auch der unternehmerische Erfolg ein jähes Ende: Die Bachrachs mussten ihren Möbelgroßhandel verkaufen, suchten nach Möglichkeiten, Deutschland zu verlassen und brachten zuerst ihre zwölfjährige Adoptiv-Tochter Eva per Kindertransport nach England in Sicherheit.
Die Eltern versteckten sich derweil in Deutschland, kehrten aber, so heißt es, von der Isolation zermürbt nach Essen zurück – letztlich ihr Todesurteil.
Erst 1952 erhielt Adoptiv-Tochter Eva die Tasche von einem Anwalt der Familie
Tochter Eva, heute: Hava Markowitz, erfuhr 1944, als sie in England einen neuen Pass beantragte, erstmals, dass sie Adoptivkind war und wanderte auf Umwegen 1947 nach Israel aus. Im Kibbuz Kfar Blum angekommen erfuhr sie, dass ihre leiblichen Geschwister, von deren Existenz sie nichts wusste, Deutschland verlassen konnten und den Krieg überlebt hatten.
1952 übergab der Anwalt ihrer Adoptiveltern Eva einige persönliche Gegenstände – darunter die Abendtasche von Mutter Jenni. Ob noch irgendetwas drinsteckte, ist nicht überliefert. Es sind halt „nur“ tote Gegenstände, 16 Objekte, die darauf warten, dass ihre Betrachter sie mit Fantasie wieder zum Leben erwecken. Und wer weiß, vielleicht steckten in Jennis Abendtasche ja nicht nur Zichten, ein Lippenstift, Taschentücher, sondern ein handgeschriebener Zettel dazu, weil sie wusste, dass sie ihre Tochter nie wiedersehen würde.
Was hätten wir geschrieben?