Essen-Werden. Der Völkermord an Juden fand auch in Essen-Werden statt. Daran erinnern Schüler-Aktionen. Warum drei Stolpersteine für NS-Opfer erneuert werden.

Die Stimme der 18-Jährigen zittert, aber sie bricht nicht: „Jacob Herz war ein Schüler wie wir. Dann war er nur noch eine Nummer. Durch unser Gedenken sollen aus Nummern wieder Menschen werden.“ Pia Mertes stockt und spricht es doch deutlich aus: „Die Shoa, also der nationalsozialistische Völkermord an den Juden, fand auch in Werden statt.“

Marle Kaatze ist erst 17 Jahre alt und denkt an Hans Simon: „Sein Schicksal und das der anderen sind eine Verpflichtung für die Gegenwart. Eine Mahnung an uns Heutige.“ Und Birgit Hartings (Historischer Verein Essen) berichtet von Felix Steeg: „Sein in die USA geflohener Bruder erstritt eine Wiedergutmachung und bekam gerade einmal 630 Deutsche Mark Entschädigung ausgezahlt. Das ist also ein Leben wert.“

Aktion soll dem Vergessen entgegenwirken

Seit 2004 erinnern in den Schulhof eingelassene Stolpersteine an die Schicksale dieser drei Ehemaligen des Gymnasiums Essen-Werden. Den Opfern des Nationalsozialismus widmet sich das Projekt „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig. Sie markieren zumeist den letzten bekannten freiwilligen Wohnsitz der NS-Opfer.

Die beiden Kaufhäuser „M. Rosenbaum“ und „Rosenbaum & Co.“ der Familie Steeg in der Brückstraße. Sie wurden im Novemberpogrom 1938 von der Werdener SA zerstört.
Die beiden Kaufhäuser „M. Rosenbaum“ und „Rosenbaum & Co.“ der Familie Steeg in der Brückstraße. Sie wurden im Novemberpogrom 1938 von der Werdener SA zerstört. © Stadtarchiv Essen | Haus der Geschichte

In Werden gibt es neun Stolpersteine. Neben den drei am Gymnasium gibt es noch Mahnmale für Ruth und Sophie Baum, Albert und Helene Levi sowie für die Sozialdemokraten Peter Burggraf und Franz Voutta. Rund um den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz veranstaltet das Gymnasium Aktionen, um an die schrecklichen Ereignisse dieser Zeit zu erinnern und dem Vergessen entgegenzuwirken.

Symbolische Klagemauer für Gebete und Segenswünsche

Es wurde eine symbolische Klagemauer errichtet, an der die Schüler Gebete und Segenswünsche anbringen konnten. Außerdem hielt die ganze Schule geschlossen eine Schweigeminute ab. Eine kleine Gedenkzeremonie stellt nun die Schicksale von Ehemaligen der Schule in den Fokus. Drei eher unauffällige Schüler, wie ihre Zeugnisse beweisen. Die ein ganz normales Leben später geführt hätten – wenn sie nicht Juden gewesen wären.

Es wurde in der Schule eine symbolische Klagemauer errichtet, an der die Schülerinnen und Schüler Gebete und Segenswünsche anbringen konnten.
Es wurde in der Schule eine symbolische Klagemauer errichtet, an der die Schülerinnen und Schüler Gebete und Segenswünsche anbringen konnten. © Gymnasium Essen-Werden | Alexandra Gollan

Die nicht mehr aktuellen Stolpersteine werden ersetzt durch neue, die mit korrigierten Angaben versehen wurden. Erforscht haben dies die Schülerinnen der Oberstufe. Ihnen bescheinigt ihr Geschichtslehrer Michael Osburg: „Die Tiefe und Genauigkeit ihrer Arbeit ist beeindruckend. Das hat universitäres Niveau. Bis nach Kanada haben sie geschrieben, um Verwandte und Zeitzeugen ausfindig zu machen.“

Die Schülerinnen forschten nach Deportationslisten aus Belgien, sie nahmen Kontakt auf zu verschiedenen Archiven. Sie waren am jüdischen Friedhof auf dem Pastoratsberg, um den Familien Simon und Steeg nachzuspüren, sagt Marle Kaatze: „Wir haben viel über das jüdische Leben in Werden erfahren.“ Erfreut war Lehrer Osburg, dass nicht das gesamte Schularchiv den Fluten der Überschwemmung im Sommer 2021 zu Opfer fiel: „Es konnte noch einiges gerettet werden, etwa Zeugnislisten.“

Recherchen ergaben, dass bisherige Angaben unvollständig waren

Die Recherchen hatten ergeben, dass die bisherigen Angaben der Stolpersteine unvollständig waren: „Bei Hans Simon stand nur, dass er deportiert und ermordet wurde.“ Nun sei aber erwiesen, dass der 1914 geborene Sohn von Otto und Celestine Anna Simon mit ihnen in die Niederlande geflüchtet war. Otto war Mitinhaber der großen holzverarbeitenden Firma Döllken, die 1938 „arisiert“ wurde.

Auf der erneuten Flucht, diesmal in die Schweiz, wurde sein Sohn im Zug aufgegriffen und kam zunächst in das SS-Sammellager Mechelen in Belgien. Hans Simon wurde deportiert und am 4. September 1942 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Nach seiner Tante Else Simon wurde die Werdener Straße Simonaue benannt, in Anerkennung ihrer vielen sozialen Aktivitäten.

Jacob Herz wurde 1893 in Werden geboren. Nach „Schutzhaft“ im Konzentrationslager Dachau wohnte er mit Schwester Berta und vielen anderen in einem „Judenhaus“ in der Bungerstraße, wurde 1942 ins Transit-Ghetto Izbica deportiert und dort an einem unbekannten Datum ermordet.

Falsche Aussagen über die Art des Todes aufgedeckt

Über das Schicksal von Felix Steeg, Jahrgang 1897, berichtet Birgit Hartings, zuständig für die Stolpersteine: „Wir haben seine Geburtsurkunde. Seine Eltern Sally Steeg und Minna, geborene Rosenbaum, hatten zwei Geschäfte an der Brückstraße. Nach kaufmännischer Ausbildung stieg Felix wie sein Bruder Kurt ins elterliche Geschäft ein.“ Er wurde am 10. November 1938 verhaftet und habe sich angeblich am 24. Juni 1939 im Polizeigefängnis erhängt. Doch man wisse heute, dass dies eine zynische Herabwürdigung war. Genauer sei „Flucht in den Tod“. Felix Steeg wird ermordet worden sein, so Hartings: „Dank der akribischen Arbeit der Schülerinnen konnte sein Stolperstein nun korrigiert werden.“ Die nachhaltige Pflege der drei Gedenksteine sei Ehrensache, so Schulleiterin Felicitas Schönau.