Essen. Das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat in Essen eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Der erste Lkw ist unterwegs.
Gebäude zusammengestürzt wie Kartenhäuser, Tausende Tote und Zigtausende Verletzte, die grimmige Kälte und die Verzweiflung in den Gesichtern der Überlebenden: Günes Tuncer (45) und seine Mitstreiter aus Katernberg haben nicht lange gefackelt, als das türkische Fernsehen die ersten schockierenden Berichte von der Erdbebenkatastrophe in ihre Wohnzimmer nach Deutschland schickte. Kurzerhand stampfte der Unternehmer an der Fatih-Moschee in Essen-Katernberg eine spontane Sammelstelle aus dem Boden: Die Resonanz ist überwältigend.
„Ich habe über unsere Whatsapp-Gruppe aufgerufen“, berichtet der Hauptsponsor von Fatihspor Essen. Um Punkt neun Uhr soll es an diesem Dienstag (7. Februar) losgehen und schon kurz darauf rollen die ersten Wagen mit Sachspenden an – die meisten aus Essen und dem benachbarten Gelsenkirchen, aber auch viele aus anderen Ruhrgebietsstädten.
Ordner von Fatihspor Essen regeln an der Fatih-Moschee in Katernberg den Verkehr
Seitdem will der Strom der Hilfsbereitschaft im Essener Norden nicht abreißen. Ordner von Fatihspor sorgen dafür, dass auf dem weitläufigen Gelände der Fatih-Moschee kein Verkehrschaos ausbricht. Pausenlos biegen Autos an der Schalker Straße ein, laden in Windeseile die Spenden ab und fahren an der anderen Seite des Minaretts wieder vom Hof. Am frühen Nachmittag stapeln sich Kartons und blaue Säcke mit Spendenmaterial meterhoch. In eine kleine Pappbox werden immer wieder Geldscheine gesteckt.
Man spürt sofort: Die Gewissheit, den Landsleuten im Südosten der Türkei konkret helfen und die unendliche Not ein wenig lindern zu können, tut irgendwie gut. Trotzdem ist die Trauer groß – und so manches Auge feucht. Einigen versagt die Stimme. „Ich habe die ganze Nacht geweint“, berichtet Azime Yerek, die in der türkischen Schwarz-Meer-Region geboren ist und 1974 als Fünfjährige nach Essen kam.
Stundenlang sitzt die Mitarbeiterin eines Katernberger Kiosks in der Nacht auf Dienstag vor dem Bildschirm und verfolgt mit Entsetzen die herzzerreißenden Berichte des türkischen Fernsehens. „Es ist grausam anzusehen, wie immer wieder kleine Kinder aus den Trümmern gezogen werden.“ Als die Geschäfte öffnen, kauft Azime Yerek ein. „Windeln, Babynahrung, Decken – in vielen Läden waren die Regale schon leer.“
Dutzende Freiwillige füllen die Kartons – nach wenigen Stunden ist der erste Lkw vollgepackt
Die Fatihspor-Leute haben drei Lkw organisiert, die die Spenden so schnell wie möglich nach Istanbul, Ankara und Edirne bringen sollen. „Die Fahrt wird zwei, drei Tage dauern“, schätzt Günes Tuncer. Von dort aus sollen die Hilfsgüter in das Katastrophengebiet geflogen werden, weil die Straßenverbindungen völlig zerstört sind. Einer der Fahrer ist Levent Yilmaz (51) von Koray Transport aus Herne. Kaum ist er um kurz nach drei Uhr nachmittags aufs Moscheegelände gerollt, beginnen fleißige Hände den Sattelschlepper zu beladen.
Dutzende Freiwillige sind an der Fatih-Moschee pausenlos damit beschäftigt, die blauen Säcke in Kartons umzufüllen und diese akkurat zu beschriften. Ein Spediteur und sogar Beamte der Bundespolizei bringen Umzugskartons vorbei.
Ali Tugrul (64), gebürtig von der Schwarzmeer-Küste und seit Jahrzehnten in Katernberg zu Hause, war Busfahrer bei der Ruhrbahn und ist inzwischen pensioniert. „Auch unsere deutschen Nachbarn haben gespendet“, berichtet er. In kurzer Zeit ist auch sein Auto vollgepackt mit Hilfsgütern: Decken sind dabei, wärmende Parkas, Socken, Hausschuhe, allein zwei Kartons mit Pullovern und drei Kartons mit Hosen und Unterhosen. „Solch’ ein schlimmes Unglück hat die Türkei in den letzten Jahrhunderten nicht erlebt.“
OB an Generalkonsul: „Den Angehörigen der Opfer gilt mein Mitgefühl“
Während die Menschen in Katernberg handeln, wird anderswo in Essen hektisch telefoniert. „Die Katastrophenregion wird noch wochenlang auf Hilfslieferungen angewiesen sein“, sagt Muhammet Balaban, Vorsitzender des Moscheen-Dachverbandes (KIM) in Essen. Wünschenswert wäre die Einrichtung einer zentralen Sammelstelle in Essen. Neben Babynahrung, warmen Decken und Kleidung seien die Überlebenden insbesondere auf Medikamente und Hygieneprodukte angewiesen.
Der Essener Kommunalpolitiker Caner Aver macht sich dafür stark, dass die Stadt Essen eine Spendenaktion startet und auf Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen zugeht. „Hilfsgüter könnten mit einem Flugzeug von Düsseldorf aus ins Krisengebiet fliegen“, sagt Aver, der beim Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen beschäftigt ist. Besonders dringend gebraucht werden medizinische Geräte, Medikamente, mobile Krankenstationen und Wasseraufbereitungsanlagen für die Erstversorgung der Erdbeben-Opfer.
Zentrum für Türkeistudien unterstützt Sammlung von Sachspenden in Essen
In einer befristeten Spendenaktion will das ZfTI den besonders betroffenen Menschen in den Städten Adana und Hatay helfen. Besonders benötigt werden Schlafsäcke, Zelte und Campingstühle. Sachspenden können von Mittwoch bis Freitag (8. bis 10. Februar) zwischen 17 und 20 Uhr sowie Samstag (11. Februar) von 10 bis 18 Uhr an der Frillendorfer Straße 150b (Yumatron GmbH) abgegeben werden.
In einem Kondolenzschreiben an den türkischen Generalkonsul hat Oberbürgermeister Thomas Kufen am Dienstag sein „tief empfundenes Beileid“ ausgesprochen. Darin heißt es: „Den Angehörigen der Opfer gilt mein Mitgefühl. Den verletzten Menschen wünsche ich eine schnelle Genesung. Die Essener Bevölkerung weiß sich den betroffenen Familien in dieser schweren Stunde der Trauer verbunden.“
Die Stadtverwaltung ist nach Angaben von Stadtsprecherin Silke Lenz über das Kommunale Integrationszentrum und das Büro des Oberbürgermeisters „zur Stunde im Austausch mit verschiedenen Stellen, um Bedarfe und Unterstützungsmöglichkeiten auszuloten“.
An der Fatih-Moschee verstauen sie Karton um Karton unter der Plane des großen Lastwagens. Es läuft wie am Schnürchen, die Männer und Frauen gehen diszipliniert und ruhig zur Sache. „Zusammen mit Gelsenkirchen werden wir einen Konvoi von zwölf Lkw in die Türkei schicken“, sagt Günes Tuncer am Mittwochmorgen. Innerhalb der nächsten 24 Stunden soll ein Transport eigens mit medizinischen Geräte und Medikamenten auf die Reise geschickt werden. Die Lkw-Flotte aus Essen und Gelsenkirchen trägt den Schriftzug „Earthquake Türkiye“ mit der deutschen und türkischen Flagge.