Essen. Emotionaler Höhepunkt des Essener Snowdance-Filmfestivals: „Acht Geschwister“ verbindet Biografie einer Großfamilie mit deutscher Geschichte.

Es haben in dieser Woche schon viele Filmschaffende aus aller Welt auf der Bühne der Essener Filmkunsttheater gestanden und über ihre Arbeit gesprochen. Aber der emotionalste Moment des Snowdance Independent Film Festivals gehört acht Menschen, die ihr Lebtag noch nichts mit Film zu tun gehabt haben. Und diese Leben währen schon lang. Auf sage und schreibe 666 Lebensjahre kommen sie zusammen, diese acht Geschwister, die Christoph Weinert für seine gleichnamige Filmdokumentation vor die Kamera geholt hat. Im Astra-Theater wurden sie zum Filmstart mit Standing Ovations empfangen.

Erst auf der Leinwand und dann live im Essener Astra-Theater: Die „Acht Geschwister“ freuten sich über viele Publikumsfragen.
Erst auf der Leinwand und dann live im Essener Astra-Theater: Die „Acht Geschwister“ freuten sich über viele Publikumsfragen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Arno, Ewald, Johannes, Anita, Heinz, Waldemar, Edith und Werner, das sind die Flemmings aus Flemmingsort. Der Ort in Hinterpommern, wo die acht zwischen zwischen 1933 und 1943 geboren wurden, heißt heute Zalezie und liegt in Polen. Um den Ort der Kindheit noch einmal wiederzusehen, sind die Flemmings vor anderthalb Jahren in einen kleinen Reisebus gestiegen und haben einen Trip in die Vergangenheit angetreten, begleitet von der Kamera.

Diese berührende Begegnung mit der Vergangenheit verdichtet Weinert zu einem 90-minütigen Zeitdokument, das die Erinnerungen mit Fotos aus dem privaten Familienalbum und passendem Filmmaterial aus den Archiven anschaulich macht. Bewegend wird der Film aber vor allem durch den unerschütterlichen Humor und die harmonische Vertrautheit der acht Geschwister, die ihre enge Verbindung trotz der manchmal schier unüberwindlichen Grenzen nie verloren haben.

Das erste Auto wird im Dorf damals wie ein technisches Wunderwerk bestaunt

Wie sich ihre Lebensgeschichten mit der deutschen Geschichte immer wieder kreuzen, das macht die Doku zu weit mehr als einer verfilmten Familienchronik. Den anekdotischen Erzählungen der Jugend auf dem väterlichen Hof, wo das Getreide noch mit der Sense geerntet wird, ein frischer Kuhfladen auf den Wiesen auch schon mal kalte Kinderfüße wärmt und ein durchfahrendes Auto noch wie ein technisches Wunderwerk bestaunt wird, folgen Erzählungen aus den Jahren der Not und Entbehrung.

Die fast unglaubliche Rückkehr des Vaters aus dem sibirischen Gefangenlager, der Schicksalswink, doch nicht auf der „Gustloff“ zu sein, als das mit Tausenden Flüchtlingen beladende Schiff 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt wird, das alles lässt diese ganz persönlichen Erinnerungen auch zu Eckpunkten der Geschichtsschreibung werden. Als die Flemmings schließlich als einer der letzten deutschen Familien in den Westen aufbrechen, landen sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Bischofferode im Harz, wo sie noch einmal ganz neu anfangen müssen. Dort treffen sie sich heute wieder alljährlich zum großen Geschwistertreffen.

Dass auch der Film oft die Intimität eines privaten Familientreffens ausstrahlt, hat gewiss damit zu tun, dass sogar ein Teil des Filmteams mit Kamera und Schnitt zur Familie gehören. Regisseur Christoph Weinert bleibt als einziger Außenstehender im Hintergrund, tritt weder bei den Gesprächsrunden im Studio als Fragesteller in Erscheinung, noch wirken die Reiseszenen zwischen den Wäldern und Feldern der alten Heimat arrangiert. So bleiben die Flemmings Regisseure ihrer eigenen Geschichte.

666 Lebensjahre beim gemeinsamen Spaziergang durch die alte Heimat. Filmszene aus „Acht Geschwister“.
666 Lebensjahre beim gemeinsamen Spaziergang durch die alte Heimat. Filmszene aus „Acht Geschwister“. © Verleih

Was dieses non-fiktionale Erzählkino denn auch am stärksten vermittelt, ist das Gefühl von Zusammenhalt und die Zuversicht, die die acht Geschwister bis heute in sich tragen. Klagen, so erzählt eine der zwei Schwestern, habe es nie gegeben. Nicht im Krieg, als sie Hunger leiden, nicht auf der Flucht, als sie ihr Zuhause, den Hof mit all den Tieren, Stallungen und Kindheitserinnerungen zurücklassen müssen; nicht nach dem Bau der Berliner Mauer, als ein Teil der Geschwister schon in den Westen geflüchtet ist und nur zwei der Flemmingkinder noch im Harz leben. Und diese plötzlich Angst haben müssen, die anderen vielleicht niemals mehr wiederzusehen.

Sie haben jede Gelegenheit zur familiären Wiedervereinigung genutzt, nicht nur zur Goldhochzeit der Eltern 1982. Dass sie nun auf die alten Tage wieder vereint sind, im Film und an diesem Abend auch im Essener Astra-Kino ist denn auch ein besonderes Geschenk – nicht nur für den Ältesten Arno, der zur Filmpremiere auch noch seinen 90. Geburtstag feiert.