Essen. Was nützen Pläne, wenn das Leben sich nicht dran hält? Olga Ianushevych flüchtete mit drei Kindern vor dem Ukraine-Krieg nach Essen. Und nun?
Sie saß ihm im Besprechungsraum der Anwaltskanzlei gegenüber, einem großen Raum mit getäfelten Wänden und üppiger Beleuchtung, und es kam dieser Satz, der in solchen Vorstellungsgesprächen immer kommt. Egal, ob man sich nun in Essen-Rüttenscheid bewirbt, oder im Petscherskyi-Distrikt der ukrainischen Hauptstadt, wo Olga Ianushevych an diesem September-Tag des Jahres 2020 unhörbar seufzt, als der Mann, der bald ihr Chef sein soll, fragt: „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“
Olga sagte, was man dann halt so sagt: Tolle Kanzlei! Und dass man bis dahin zum Erfolg beigetragen haben will und vielleicht auch ein kleines bisschen zur eigenen Karriere, mehr Verantwortung, besseres Standing, so in etwa. Ganz genau weiß sie das nicht mehr, aber was sie auf jeden Fall weiß, dass nicht vom Leben in Essen-Holsterhausen die Rede war, von Todesangst, einem Neustart aus dem Nichts und davon, dass sie 1843 Kilometer entfernt getrennt von ihrem Mann leben muss.
Dieser fürchterliche Krieg in der Ukraine, er änderte alles, und für die 39-jährige Mutter von drei Kindern hat sich das Leben mit dem 24. Februar 2022 in zwei Teile geteilt: in das davor in Kyiv. Und das danach in Essen.
Das Leben zu fünft an der „Friedensstraße“ in Kyiv – ausgefüllt und durchgetaktet
In jener Zeit davor lebten sie zu fünft in einer Mietwohnung am Myru Prospekt („Friedensstraße“) in Kyiv. Die inzwischen 9 Jahre alte Tochter ging wie die beiden Söhne, 11 und 14, zur Schule und Olga zur Arbeit wie ihr drei Jahre älterer Mann Oleksandr. Alltag halt, aber für die Kinder ziemlich durchgetaktet: mit Klavierunterricht und Chor, Schach und Malkunst, Sport und Tanzen. „Ich bin eine strenge Mama.“
Bei Besuchen in der Familie, bei Feiern wird auch schon mal politisch diskutiert – kein Wunder, wenn man zuhause Ukrainisch spricht, einem an der Uni in Odessa aber fast alle Fächer auf Russisch eingetrichtert wurden. Olga fällt damals schon auf: Sie ist die einzige, die sich orangefarbene Bänder an die Tasche bindet, Zeichen für die orange Revolution im Lande. Sie traut sich was, „wir waren politisch immer sehr aktiv“.
Die Russen greifen an! „Schickt die Kinder nicht in die Schule!“ heißt es von dort
Angst haben andere. Ihre Mutter zum Beispiel, die Olga im Winter 2021/22 bei jeder sich bietenden Gelegenheit fragt, ob sie denn schon einen Fluchtkoffer gepackt hat. Nur für den Fall, dass die Russen einmarschieren. „Mama, glaub‘ mir, das passiert nicht!“ bekommt die Mutter zur Antwort, „das wäre doch verrückt…“.
Irgendwann packt sie dann doch die wichtigsten Unterlagen zusammen – und mag ihren Ohren nicht trauen, als Mama sie am Morgen des 24. Februar aus dem Bett klingelt: Die Russen greifen an! Erst als sich auch die Lehrerin meldet und appelliert: „Schickt die Kinder nicht in die Schule!“ wird Olga klar, dass ihre alte heile Welt in diesem Moment zusammenstürzt. „Am ersten Tag waren wir alle wie paralysiert“, sagt sie. Ihr Mann hebt Bargeld ab, sie stellt sich in eine der langen Schlangen vor der Apotheke, um Verbandsmaterial zu kaufen. Man weiß ja nie.
Die große Entscheidung, sie fällt am zweiten Tag: „Du rettest die Kinder!“
Der Sohn schaut derweil nach Zugverbindungen. Fliehen oder bleiben? „Die Kinder haben erwartet, dass wir eine Entscheidung treffen“, sagt Olga, „aber wir konnten das nicht“. Nicht an diesem 24. Februar, weil niemand wirklich wusste, was das Sicherste ist. Ehemann Oleksandr hat eine Waffe für Gummiprojektile zuhause, aber würde das reichen? Sie würde auch eine echte Waffe in die Hand nehmen, „etwas, womit ich meine Kinder schützen kann“, aber es erübrigt sich, den Mumm aufzubringen und Kontakte für einen Kauf auszutesten.
Denn die große Entscheidung, sie fällt am zweiten Tag, und sie fällt zugunsten der Flucht: Nur weil die Kinder so schrecklich weinen, dass Papa nicht mitkommen, sondern das Land verteidigen will (obwohl er fliehen könnte, als Vater von drei Kindern), fährt dieser zunächst die rund drei Stunden bis ins 250 Kilometer südwestlich gelegene Winnyzja mit und gibt Olga auf den Weg: „Du rettest die Kinder!“ Später wird sie sagen, dass sie in diesem Moment nicht so recht wusste, ob sie richtig sauer sein sollte oder unglaublich stolz.
Nach drei Wochen Odyssee kommen sie in der Logenstraße in Essen unter
In der Erinnerung verschwimmt manches, und dass das alles erst gut zehn Monate her sein soll, lässt Olga Ianushevych mit dem Kopf schütteln. Nach drei Wochen Flucht-Odyssee kommt sie am 14. März in Deutschland an. Eine mit ihrem Arbeitgeber partnerschaftlich verbundene Rechtsanwalts-Kanzlei aus Düsseldorf hilft ihr und ihrer Schwägerin samt Familie bei der Suche nach einer Unterkunft. Logenstraße in Essen, das ist für die acht Personen die neue Heimat.
An dieser Stelle könnte kitschige Musik aus dem Off einsetzen: Gerettet, alles wird gut, ewige Dankbarkeit durchströmt sämtliche Beteiligten, die untergehende Sonne taucht den Baldeneysee in warmes Licht.
Monatelange Ungewissheit und eklatante Sprachprobleme – die Schwägerin gibt auf
Aber so ist es nicht. Das mediale Trommelfeuer immer neuer Kriegs-Meldungen aus der Heimat vermischt sich mit den Startschwierigkeiten in Essen. Monatelang keine Wohnung, kein Kindergarten-Platz, die eklatanten Sprachprobleme – sie sorgen dafür, dass die Schwägerin samt Familie irgendwann entnervt und auch desillusioniert wieder zurück in die Ukraine fährt. Zurück ins Kriegsland. Olga und ihre Kinder bleiben.
Ganz sicher auch, weil die Sprache für sie kein Problem ist: Sie spricht perfekt Deutsch, schon seit Schulzeiten, hat zwei Jahre in Frankfurt an der Oder Jura studiert und einen LL.M.-Abschluss erworben, auch die Kinder sind – mehr oder weniger – versiert. Das hilft enorm, auch wenn manche Erwartung sich als Illusion erweist: „Wir dachten anfangs, dass es um zwei Wochen geht“, bis ein Freund ihr sagt, dass dieser Krieg vielleicht fünf, vielleicht zehn Jahre dauert, bis sie wieder zurück kann, „wenn die Ukraine dann überhaupt noch existiert“.
Sie organisiert Demos – und kämpft auf dem Essener Bürgeramt für „Kyiv“ statt „Kiew“
Das zerrt an den Nerven, sagt Olga, die das Gefühl nicht los wird, selbst zu wenig zu unternehmen. Also organisiert sie Demos in Blau und Gelb in Düsseldorf, Essen und anderswo, übersetzt für Freunde oder ukrainische Bekannte, hilft bei Kultur-Veranstaltungen – und wird doch dieses ungute Gefühl nicht los: „Machen wir das alles hier umsonst?“
Ihr Alltag rankt sich bei ihr viel um die ganz kleinen und die ganz großen Gefühle. Etwa wenn sie mit der Mitarbeiterin vom Essener Bürgeramt um die Frage ringt, wie denn die ukrainische Hauptstadt in den Ausweis zu schreiben sei: „Kiew“, das sei doch „eine russische Transkription“, versucht Olga zu überzeugen, das kann man googeln, steht gleich im ersten Kapitel bei Wikipedia, doch „Kyiv“ akzeptiert die städtische Behörde nicht. Kiew also.
Hänseleien in der Schule, ein Dolmetscher schlägt zu und bedrohliche Arzt-Aussagen
Sei’s drum, besorgniserregender ist für sie, dass „die Kinder sich leider nicht so wohl fühlen, wie ich es gewollt hätte“. So ist die Tochter schon mal weinend nach Hause gekommen, weil sie sich in der Grundschulklasse Parolen wie „Putin ist gut und Ukrainer sind schlecht“ hat anhören müssen. Migrantenkinder, die andere Migrantenkinder verunsichern und verächtlich machen – kein Einzelfall, auch wenn sich auf Initiative einer aufmerksamen Lehrerin die Kinder hinterher entschuldigen.
Denn da gibt es ja noch den russischen Dolmetscher aus Essen, der ein ukrainisches Kind blutig geschlagen haben soll, als die Mutter kurz nicht im Zimmer war. Der Fall ist der Polizei bekannt, erste Vernehmungen sind gelaufen, der Lehrer weiß im Nachhinein auch nicht recht, was ihn da geritten hat, heißt es. Oder dieser Besuch einer Bekannten in einem Essener Krankenhaus und dieser sinngemäß geäußerte Satz: „Die Qualität meiner Behandlung hängt davon ab, wem nach Ihrer Meinung die Krim gehört…“
Flüchtlings-Konkurrenz als Thema: „Warum bekommen die Ukrainer alles auf einmal?“
Olga weiß, auf welch schmalem Grat sie wandert, wenn sie solche Dinge anspricht, will deshalb diesen Text über sie noch einmal lesen, sicherheitshalber, „manches könnte rassistisch klingen“. Wo sie doch in der Innenstadt selbst Unsicherheit beschleicht, wo sie sich anderen Flüchtlingen gegenüber rechtfertigen müsse: „Warum bekommen die Ukrainer alles auf einmal?“
Dabei hatten sie selbst gar nicht dieses Gefühl, als sie zusammen mit Ägyptern, Marokkanern und Syrern in der Logenstraße nett beieinander wohnten. Und wenn sie für sich – und wegen ihrer Deutsch-Kenntnisse auch für andere – das durchficht, was sie den „Kampf mit den Behörden“ nennt, die vielen Termine, die ganze Bürokratie, werden die Zuhörer nachdenklich: „Alles dauert wirklich sehr, sehr lange.“
Kritische Anmerkungen, die nicht zur selbstgefälligen „Wir schaffen das“-Attitüde passen
Solche ungeschminkten Urteile passen jedenfalls so gar nicht zur selbstbewussten, mitunter auch selbstgefälligen bundesdeutsche „Wir schaffen das“-Attitüde und sie könnten statt als der freundliche Hinweis, als der sie gemeint sind, als grober Undank ausgelegt werden. Weshalb Olga sich beeilt hinterherzuschieben, „dass ich das wirklich sehr schätze, was die Leute alles für die Ukraine machen“.
Vielleicht, sinniert sie, waren schon die bisherigen Flüchtlingswellen „zu viel für die ordentlichen Deutschen, und jetzt kommen auch noch die Ukrainer“. Und es schwingt ein bisschen Bedauern mit, dass „Deutschland sich so verändert hat“ – verglichen mit 2008, als sie das Land nach dem Stipendium wieder verließ, „aber es gibt kein Zurück zu den alten Zeiten“.
Ein paar Tage auf Heimaturlaub in der Ukraine: „Die Kinder wollten es mehr als ich“
Wie sie das sagt, klingt es auch wie ein Appell an sich selbst. Sie merkt, dass sie sich selber schon mit vielem arrangiert hat, nur „für die Kinder dauert es noch eine Weile“, aber die brauchten einen verlässlichen Alltag. Die zweite große Entscheidung, eben nicht zurück nach Kyiv zu gehen, hat Olga deshalb bereits getroffen.
Und es ist kein Widerspruch, dass sie mit den drei Kindern in diesen Tagen auf Heimaturlaub ist, mit dem Flixbus über Prag Richtung Ukraine: „Die Kinder wollten es mehr als ich.“ Papa sehen, die Oma, die Uroma, die schon 85 ist. Vielleicht auch Freunde. Weihnachten feiern. Olga hofft „sehr, dass nichts Schlimmes passiert“. Dass sie nur noch mal als Familie zusammen sein können, zwei Wochen, nicht mehr, danach geht es wieder zurück nach Essen.
„Ich habe schon alle Pläne vergessen, die ich jemals hatte“, seufzt Olga Ianushevych
Der Krieg, sagt sie, „hat uns Ukrainer zusammengeschweißt, das ist ein gutes Gefühl“. Sie arbeitet ein paar Stunden pro Woche im Homeoffice für eine Kölner Anwaltskanzlei, die Kinder lernen vormittags in der deutschen Schule und nachmittags in der ukrainischen, dazu noch Klavierunterricht, auch dieser online – wenn nicht gerade der Strom ausfällt oder Luftalarm herrscht: Man kann das ganz gut per App verfolgen.
Wohin ihre ganze Wut ist, auf den Krieg und jene, die ihn angezettelt haben? Darauf hat die 39-Jährige keine wirkliche Antwort. Wenn sie sich Filme in den sozialen Netzwerken anschaut, weint sie oft bei den Bildern, in denen Kinder die Helden-Auszeichnungen stellvertretend für ihre Eltern entgegennehmen. Ihre Pläne? „Ich habe schon alle Pläne vergessen, die ich jemals hatte“, seufzt Olga Ianushevych mit einem etwas gequältem Lächeln, „und ich habe das Gefühl, dass man keinen neuen Plan mehr schmieden kann“. Täglich fallen die Bomben, täglich sterben Menschen in ihrer Heimat.
Und was in fünf Jahren ist, wer weiß das schon?