Essen. Die deutsch-russische Gesellschaft hält Kontakte mit Essens Partnerstadt Nischni Nowgorod trotz Krieg und Putin-Verehrung aufrecht. Die Gründe.
Sie wolle der Kriegsrhetorik trotzen, sagte Barbara Lachhein, Vorsitzende der Gesellschaft für deutsch-russische Begegnung, Anfang Februar vergangenen Jahres im Gespräch mit der Redaktion. Drei Tage später marschierte Putins Armee in die Ukraine ein. Seitdem herrscht Krieg. Sie habe es sich nicht vorstellen können, dass es so weit kommen würde, sagt Barbara Lachhein heute. Auch ihre Gesprächspartner in der Stadtverwaltung von Nischni Nowgorod hätten es sich nicht vorstellen können.
Seit den frühen 1990er Jahren hält die Gesellschaft für deutsch-russische Begegnung Kontakte in Essens Partnerstadt an der Wolga. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine ruht die Städtepartnerschaft, die Stadt Essen hat die Beziehungen auf Eis gelegt. Auch für die deutsch-russische Gesellschaft stellte sich die Frage, wie soll es weitergehen?
Die deutsch-russische Gesellschaft denkt an die Zeit nach dem Krieg
In seinen Reihen habe der Verein in diesem Jahr zwei Aus- und vier Eintritte zu verzeichnen, schreibt der Vorstand in seiner Weihnachtspost an die rund 150 Mitglieder. „Für die einen ist die Nähe zu Russland unerträglich geworden. Die anderen sehen im Halten der zwischenmenschlichen Beziehungen eine Chance für die Zukunft“, heißt es.
Zu Letzteren zählt Barbara Lachhein. Die Vorsitzende der deutsch-russischen Gesellschaft spricht von „einem ganz dünnen Faden“, den es noch nach Russland gebe und den sie nicht abreißen lassen wolle. Lachhein denkt an die Zeit nach dem Krieg. Und sie denkt an die noch junge Generation in Nischni Nowgorod: „Wir dürfen die jungen Leute nicht verlieren.“
Vier junge Russinnen und Russen haben in diesem Jahr ein freiwilliges soziales Jahr in Essen verbracht. Barbara Lachhein hofft, dass es dem Verein auch in diesem Jahr gelingen wird, Freiwillige aus Nischni einzuladen und ihnen einen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Das Machbare machen – dieser Wunsch komme in Gesprächen immer wieder zum Ausdruck. Brücken seien schnell abgebrochen, ergänzt Lachhein. „Sie wieder aufzubauen ist viel mühevoller.“
Weitermachen in Zeiten des Krieges?
Weitermachen in Zeiten des Krieges? Geht das? Bedarf es nicht viel mehr einer klaren Haltung angesichts von Kriegsverbrechen und Raketen-Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung?
Innerhalb des Vereins und seines Vorstands werde kontrovers diskutiert. Zum Beispiel über die Frage, ob man sich zu Memorial bekennen solle. Die Menschenrechtsorganisation hat es sich vor 30 Jahren zur Aufgabe gemacht, die während der Stalinzeit begangenen Verbrechen aufzuarbeiten. In diesem Jahr wurde Memorial mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. In Russland ist Memorial verboten, unter Putin werden Stalins Verbrechen relativiert und geleugnet, der Diktator genießt hohes Ansehen.
Das Glückwunschschreiben aus Essen an Memorial blieb aus. Dabei war die deutsch-russische Gesellschaft einst angetreten, um die Zivilgesellschaft in Russland zu stärken.
Langjährige Freunde in Russland sind Putins Propaganda erlegen
„Wir sind damals angetreten, um vor allem Vertrauen zu schaffen“, sagt Angelika Küpper, Gründungsmitglied und bis 2015 Vorsitzende der deutsch-russischen Gesellschaft, und blickt auf die Anfänge des Austauschs mit Nischni Nowgorod zurück, aus dem die Städtepartnerschaft mit Essen erwachsen ist. Heute müsse sie betroffen zur Kenntnis nehmen, dass auch langjährige Freunde und Bekannte in Nischni Putins Propaganda erlegen seien und diese vorbehaltlos nachbeten. Aller gegenseitigen Besucher und Gespräche der vergangenen Jahre zum Trotz tut sich ein Graben auf.
Angelika Küpper nennt dies eine große Enttäuschung. „Es war immer ein Gesprächsfaden da“, sagt sie. „Aber wir lassen nun viele Kontakte ruhen. Nur Smalltalk, das kann ich nicht.“