Essen-Steele. Mit zehn Jahren kam Justin ins Kinderheim nach Essen-Steele, mit 17 wollte er nun ausziehen. Das gelang nicht, wie seine Wünsche nun aussehen.
Als Justins (Name geändert) Eltern sich um ihren Sohn nicht mehr kümmern konnten, haben das Erzieher und Erzieherinnen übernommen, haben ihn aufgefangen, zugehört und getröstet. Denn als die Situation in seiner Familie eskalierte, kam der Junge in Obhut, zog bei der Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung ein. Hier erlebte der Zehnjährige Geborgenheit statt massiver Konflikte, fasste Vertrauen statt sich hin- und hergerissen zu fühlen zwischen Mutter und Vater, die beide nicht haben loslassen können. Die Kindergruppe in Steele wurde sein Zuhause, das Heim zu seiner Heimat.
Hinter den dicken Mauern des imposanten Gebäudes finden bis zu 102 Mädchen und Jungen Zuflucht und Fürsorge, wenn sie zu Hause Leid erfahren haben oder vernachlässigt worden sind. Wenn Eltern ihnen haben keine Liebe schenken können oder gar Gewalt angetan haben, weil ihre Probleme selbst zu groß, sie mit Alkoholsucht oder psychischen Erkrankungen kämpfen. Ihre Kinder bleiben dann mitunter auf der Strecke oder werden selbst zu kleinen Erwachsenen und tragen Last wie Verantwortung.
Mit wenig Gepäck und den vielen, ganz persönlichen Geschichten kommen sie schließlich im Kinderheim an, werden in der Schule abgeholt oder nachts von Polizeibeamten gebracht, wenn Gefahr für sie droht. Nun ist eine weitere Bedrohung hinzugekommen: „Wir erleben jetzt die Auswirkungen dessen, was in der Pandemie aufgelaufen ist und was der Lockdown mit Kindern und Jugendlichen angerichtet hat“, beschreibt Martin Engler, pädagogischer Leiter und berichtet von zahllosen Hilferufen.
Zuletzt hätte das Kinderheim acht Kinder in einer Woche aufnehmen sollen
„Die Anfragen für stationäre Plätze gehen durch die Decke“, sagt er mit Blick auf die vergangenen Monate. Fast täglich kämen diese Anrufe, zuletzt hätten sie acht Kinder in einer Woche aufnehmen sollen. „Doch wir sind voll“, sagt er traurig wegen der aktuellen Lage, die sich im Laufe des Jahres zugespitzt habe und die auch bedeutete, dass sie ein Mädchen sogar haben im weit entfernten Ibbenbüren unterbringen müssen.
„Wir haben geraume Zeit nicht in die Familien reingehen können“, sagt Martin Engler über Konflikte, die sie nicht im Blick haben können, bei denen sie nicht zeitnah einzugreifen vermochten. Hinzu seien neue Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien gekommen sowie die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche schwieriger würden, manche sind nicht mit Regeln vertraut, andere haben nie Grenzen einhalten müssen. Mangelnde Erziehungskompetenz sowie immer größer werdende Not und Nöte in armen Schichten bedeuteten, dass Kinder hinten herüberfallen.
Das kann vor allem bei pubertierenden Mädchen dazu führen, dass sie sich selbst verletzen. „Ein typischer Ausdruck von hoher Belastung in den Familien“, erklärt der pädagogische Leiter ein häufiges Phänomen. Essstörungen, Traumatisierungen und Sozialphobien mehrten sich, weil Kinder kaum noch nach draußen gekommen seien. „Einige hier haben ein oder zwei Jahre keine Schule besucht.“
Es werden zu wenige Erzieher, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter ausgebildet
Im Kinderheim-Alltag und vor allem auch im Schichtdienst sei dadurch die Belastung für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ebenfalls enorm gestiegen. Sie sind abwechselnd Tag und Nacht bei den Kindern und Jugendlichen, damit stets ein Ansprechpartner helfen kann, eine Vertrauensperson in der Gruppe ist. Gleichzeitig würden zu wenig Erzieher, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter ausgebildet und nicht wenige von ihnen wählten dann statt Schichtdienst lieber die Kita als Arbeitsplatz, blickt er besorgt auf den Fachkräftemangel.
Habe er früher bei einer ausgeschriebenen Stelle zwei bis drei Bewerbungen erhalten, so seien derzeit zwei Stellen unbesetzt. Da die Belegschaft aber ansonsten stabil sei, gefährde das ihre Arbeit noch nicht, gleichwohl seien in anderen Ruhrgebietsstädten bereits Gruppen geschlossen worden. Weniger Erzieher bedeute eben auch eine Verknappung an Plätzen, die derzeit doch so dringend benötigt würden. Daher lautet ein großer Wunsch im Kinderheim: mehr Fachkräfte für das kommende Jahr, die zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen.
Der Umzug in seine eigene Wohnung hat Justin in diesem Jahr herausgefordert. Er hatte in die Verselbstständigungsgruppe des Kinderheims gewechselt, um den Alltag allein zu meistern – und kam doch wieder zurück. Zwar hatte Justin auch in der neuen Gruppe Erzieher, die für ihn da waren. Aber es waren eben nicht die Menschen, die ihm im Laufe der Jahre so vertraut und wichtig geworden sind.
Justin braucht und genießt jetzt wieder den Schutz der Gruppe
Der heute 17-Jährige fand wie damals mit zehn erneut Unterschlupf in seiner früheren Kinder- und Jugendgruppe, in der Mädchen und Jungen zwischen sechs und zwölf Jahren leben. „Auch andere Jugendliche oder junge Erwachsene ziehen doch wieder bei Mama und Papa ein, wenn sie etwa nach dem Studium erst einmal nicht wissen, wie es weitergehen soll“, findet Martin Engler Justins Entschluss nicht ungewöhnlich. Doch zeige dieser eben auch die enge Beziehung zu seinen Erziehern. Kontakt zu seinen Eltern hat der Jugendliche hingegen kaum.
Justin braucht und genießt jetzt wieder den Schutz der Gruppe und hegt gleichzeitig schon Pläne fürs neue Jahr, blickt dabei Richtung Sommer. Dann wird er 18 sein, möchte selbstständig werden, eine Ausbildung beginnen und in einer eigenen Wohnung das besser machen, was nicht gut gelaufen ist. „Vielleicht klappt es beim zweiten Anlauf“, sagt Martin Engler zuversichtlich, denn bei diesem werde Justin stärker unterstützt: Dann startet er aus seiner Wohngruppe ins Leben.