Essen. Der virtuelle Stadtrundgang durch „Essen 1887“ kämpfte mit Computerproblemen. Nun läuft die Reise (fast) rund und wurde sogar belohnt.
Bei Essens Marketing Gesellschaft EMG sind sie gerade furchtbar stolz. Denn ihre virtuelle Stadtführung „Essen 1887“ wurde im spanischen Sevilla mit einem internationalen Tourismuspreis ausgezeichnet. Der Award wird einmal im Jahr im Rahmen des „Tourism Innovation Summit“ vergeben und richtet sich an Unternehmen aus der der Tourismusindustrie, die innovative oder nachhaltige Produkte entwickeln. Mehr als 100 Unternehmen hatten sich in diesem Jahr um einen Preis beworben. Die Essener musste sich nur dem Gaudi Museum aus Barcelona geschlagen geben.
„Essen 1887“? Richtig, das ist der als „Mixed Reality Zeitreise“ beschriebene Rundgang durch die Essener Innenstadt, den die EMG seit April dieses Jahres, begleitet von reichlich Werbung und Tamtam, anbietet. Der virtuelle Ausflug führt Besucher zurück in die aufstrebende Industriestadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Boomtown Essen würde man heute sagen.
Mit der Reality-Brille von „Essen 1887“ sieht man aus wie ein Besucher aus der Zukunft
Zeitreisende müssen sich dafür eine dunkle Brille auf die Nase setzen, die einen aussehen lässt, als sei man einem Science-Fiction-Film entsprungen. Passanten, denen man auf dem etwa zweistündigen Spaziergang begegnet, schauen jedenfalls immer wieder staunend drein.
Hinter den Brillengläsern verbirgt sich ein Computer. Dazu gibt es Kopfhörer auf die Ohren und ein Handy um den Hals. Die „Mixed-Reality-Brille“ lotst den Zeitreisenden die Kettwiger Straße entlang zu rund zwei Dutzend Stationen, an denen man in die Vergangenheit eintaucht.
Der Start bei unserem Testlauf ist vielsprechend, am Willy-Brandt-Platz schaut man plötzlich die mit Kopfsteinen gepflasterte Hachestraße entlang zum alten Hauptbahnhof, 1862 noch aus Holz erbaut. Die Szenerie wirkt verblüffend real, entworfen wurde sie am Computer mit Hilfe von historischen Fotos.
Bald darauf treffen wir auf einen Zeitungsjungen in knielangen Hosen. Es handelt sich um das digitale 360-Grad-Abbild eines Schauspielers; auf unserem Spaziergang sollen uns noch prominentere Namen begegnen. Der Bursche bietet uns die frisch gedruckte Ausgabe der „Essener Allgemeinen“ feil. Die Tageszeitung lässt uns wissen, dass Alfred Krupp gestorben ist. Der Tod des Industriellen bildet den erzählerischen Rahmen unserer Reise, von der EMG als „Weltneuheit“ beworben. Man kann sich hinunterbeugen zum Zeitungsstapel und die Traueranzeige lesen: Essener Geschichte zum Greifen nah.
Der Start von „Essen 1887“ verlief holprig, was nicht am Kopfsteinpflaster lag
Fast 10.000 Besucherinnen und Besucher haben sich bisher auf den Weg ins Jahr 1887 gemacht. In der Marketinggesellschaft freuen sich über diese Resonanz, doch positive Nachrichten wie die jüngst von der Auszeichnung beim Tourismusgipfel in Spanien, können sie bei der EMG gut gebrauchen, denn die Reise in die Vergangenheit verlief zunächst, gelinde gesagt, holprig; und das lag nicht etwa am historischen Essener Kopfsteinpflaster.
In der Praxis zeigte sich, dass die technische Innovation so ihre Tücken hat. Datenübertragungen brachen plötzlich ab, Schauspieler erstarrten mitten im Satz… Dafür wurden die Beschwerden immer lauter. Es dauerte eine Weile, bis sie bei der EMG herausfanden, dass es an den Prozessoren der Handys lag und sämtliche Geräte ausgetauscht wurden. Bis dahin schickte die Marketinggesellschaft Mitarbeiter in die Fußgängerzone, um möglichst rasch für Ersatz zu sorgen.
Wegen massiver Hardware-Probleme lagen die Kosten von „Essen 1887“ doppelt so hoch
Doch auch die neuen Handys eines anderen Herstellers funktionierten zunächst nicht wie erhofft, was – wie sich zeigen sollte – am ausgewählten Satelliten lag. Die Geräte wurden umprogrammiert. Die Investitionskosten liefen wegen „massiver Hardeware-Probleme“ derweil davon – auf rund 500.000 Euro, das sind doppelt so viel wie geplant.
Ausgaben für „Werbung, Aushilfen etc.“ belaufen sich laut EMG auf 200.000 Euro. Dafür spielte die virtuelle Stadtführung bislang 240.000 Euro ein, die Marketinggesellschaft hatte mit 80.000 Euro kalkuliert.
Inzwischen läuft das System stabil, betont EMG-Chef Richard Röhrhoff, wenn auch nicht fehlerfrei. Um neue Daten laden zu können, fordert uns die Computerbrille an jeder Station auf, einen grünen Rahmen vor uns auf dem Straßenpflaster zu fixieren. Das klappt nicht immer auf Anhieb und erfordert Geduld. Und als wir auf der Kettwiger Straße vor den alten Patrizierhäusern der Familien Baedeker, Funke und Grillo Schauspielerin Tatjana Clasing in der Rolle der Wilhelmine Grillo treffen, setzt ihr Redefluss plötzlich aus. Wir ziehen das Verbindungskabel aus dem Handy und stöpsel es wieder ein, schon geht es weiter im Text. Wilhelmine erzählt, dass sie uns Essenern ein Theater schenken möchte. Es soll der einzige Aussetzer auf der Tour bleiben.
Die hat wahrlich Beeindruckendes zu bieten. Der Rundumblick an der Evangelischen Marktkirche lässt einen mit offenem Mund staunen und verstehen, warum viele Essener dem alten Rathaus nachtrauern, das gegenüber der Marktkirche stand. 1964 musste es dem Kaufhaus Wertheim weichen. Schade drum.
Zeitreise bald auch mehrsprachig
Tickets für „Essen 1887 – eine Mixed-Reality-Zeitreise“ kosten 25 Euro pro Person und sind in der Touristikinformation und online buchbar unter www.Essen1887.de. Bis einschließlich Dezember legt die virtuelle Zeitreise eine Winterpause ein. Von Januar bis Ende März ist der virtuelle Ausflug in Essens Vergangenheit dann an den Wochenenden möglich, aber April mittwochs bis sonntags. Ab Frühjahr will die EMG die Tour auch auf Englisch und Niederländisch anbieten.
Das gilt auch für die Altstadt in der heutigen nördlichen Innenstadt. Fachwerkhäuser und enge Gassen fielen dem Bombenkrieg zum Opfer. So bleibt uns ein virtueller Abstecher in die Kneipe von Hennes, dem Wirt, gespielt vom Essener Schauspieler Henning Baum. Sogar hinter den Tresen lässt er uns schauen. Ein Frischgezapftes wäre nicht schlecht, aber so real ist die Reality Show leider noch nicht.
Zeitreise ins Jahr 1887: Es soll weiter daran gearbeitet werden
An der Zeitreise ins Jahr 1887 soll noch weiter gearbeitet werden: Technisch und auch inhaltlich, kündigt Richard Röhrhoff an. Vorstellbar sei vieles. Ein virtueller Besuch auf Zollverein zum Beispiel, wo die Förderbänder noch rattern oder ein Abstecher in die Gießereien und Fabriken der einstigen Krupp-Stadt.
Insbesondere auswärtige Besucher wünschten sich mehr Informationen über die Essener Geschichte. Also Fakten, Fakten, Fakten. Denn manches, was es auf der Tour zu sehen gibt, wirkt verspielt. Man muss es mit einem Augenzwinkern nehmen, wenn uns Sternekoch Nelson Müller in der Rolle eines Markthändlers voraussagt, dass die Zukunft der Kochkunst in der „Haute Cuisine“ liegt. Und wenn uns Henning Baum alias Hennes versichert, „Wir Essener halten zusammen“, dann klingt das doch arg nach einem Werbeslogan der EMG.