Essen. Essens Chefvirologe Ulf Dittmer hält es für unbedenklich, dass viele Corona-Fälle unbekannt bleiben. Warum aber zu viel Sorglosigkeit falsch wäre.

Die Dunkelziffer von Bürgerinnen und Bürgern, die an Corona erkranken, das aber nicht den offiziellen Stellen melden, ist in diesem Sommer erheblich gewachsen. Das schätzt Ulf Dittmer, Chef-Virologe des Uniklinikums Essen. Der Mediziner geht davon aus, dass die Zahl der tatsächlich mit Covid-19 infizierten Menschen in Essen im Sommer zwei- bis dreimal höher war, als in den offiziellen Statistiken angegeben wurde. Dittmer: „Wir können davon ausgehen, dass wir eine große Sommerwelle an akuten Corona-Infektionen hatten. Diese Welle ist aber statistisch kaum erfasst worden. Viele Bürgerinnen und Bürger erkranken mittlerweile an Corona, ohne das per PCR-Test bestätigen zu lassen“, sagte Dittmer am Dienstag gegenüber unserer Redaktion.

So sind den offiziellen Daten des Robert-Koch-Instituts zufolge derzeit rund 220 Bürgerinnen und Bürger in Essen an Corona erkrankt. Mitte Juli lag diese Zahl bei rund 530. Geht man von einem dreifachen Wert aus, waren es tatsächlich mehr als 1500 Erkrankte. Der jemals höchste Wert an akuten Coronafällen im Essener Stadtgebiet wurde offiziell am 11. Februar 2022 registriert mit 2237 aktuellen Infektionen. Die Omikron-Variante hatte sich damals massiv ausgebreitet.

Keine aktuellen Corona-Zahlen mehr seit Mai

Seit dem Monat Mai übermittelt die Stadt Essen nicht mehr täglich die Corona-Daten. Weder die aktuelle 7-Tage-Inzidenz, noch die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die mit Corona im Krankenhaus liegen. Gleiches gilt für die Impfquoten. Besonders die Inzidenz hatte zu diesem Zeitpunkt bereits massiv an Bedeutung verloren, weil schon im Frühjahr viele akute Covid-Infektionen nicht mehr gemeldet wurden. Der Grund: Seit den Impfungen hat die Zahl der schweren Verläufe, ausgelöst durch Covid, rapide abgenommen. Entsprechend nüchtern betrachtet Virologe Dittmer die Lässigkeit, mit der immer mehr Bürger mit einer Covid-Infektion umgehen: „Dass eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern mit Corona infiziert ist, ohne dass dies den Stellen gemeldet wird, ist medizinisch derzeit nicht bedenklich.“

Eine weitgehende Normalisierung der Verhältnisse erkennt man schon lange daran, dass die Zahl der infizierten Intensiv-Patienten in Essener Krankenhäusern seit vielen Monaten die 20 nicht mehr überschritten hat. Gegenwärtig sind es zwölf Männer und Frauen aus Essen, die mit Corona auf einer Intensivstation liegen, wobei Corona wohlgemerkt gar nicht der Grund sein muss für den Aufenthalt in einer Intensivstation. „Aufgrund der breiten Immunität der Bevölkerung“, sagt Dittmer, sei diesbezüglich keine dramatische Situation mehr zu erwarten.

Impfung bedeutet nicht: Keine Infektion mehr

Durch Impfungen und Erkrankungen haben sich bei den meisten Menschen Antikörper gegen Corona gebildet. Was nicht bedeutet, dass man sich nicht mehr infizieren kann. Nur: Die Antikörper sorgen dafür, dass die Erkrankung kaum ausbricht oder wenn, dann nur milde. Entsprechend hat weiterhin den Nachteil, wer eine Impfung scheut: „Wer nicht geimpft ist und an der Omikron-Variante erkrankt, baut in der Genesung kaum Antikörper auf, das ist jetzt wissenschaftlich belegt“, berichtet Dittmer.

Anders als andere Experten geht Dittmer nicht davon aus, dass wir vor einer neuen, massiven Herbst-Welle an Corona-Infektionen stehen – dafür seien zu viele Menschen längst mit wirksamen Antikörpern ausgestattet. Übertrieben sei aber die aktuelle Einlassung des US-Präsidenten Joe Biden und auch die Corona-Politik vieler europäischer Staaten, wonach die Corona-Pandemie vorbei ist und auf jegliche Schutzmaßnahmen verzichtet werden kann: „Das Problem der Corona-Infektionen liegt derzeit sicherlich weniger an medizinischen Faktoren, sondern dass es weiterhin zu massiven Personalausfällen in öffentlichen Bereichen kommt, vor allem bei der Pflege und Versorgung.“