Essen-Byfang. Die Häuser der Bergbausiedlung sind längst dem Erdboden gleich gemacht worden. Doch frühere Bewohner erinnern sich an die Zeit in Essen-Byfang.
Mitten im Byfanger Wald steht ein Turm. Bis vor 50 Jahren lebten an dieser Stelle die Leute vom Alten Schacht. Bergmänner mit ihren Familien. Jetzt erinnern eine Gedenktafel und ein Hörspiel an ihre Geschichte.
Zu verdanken haben sie das Ralf Kaupenjohann. Der Chronist entdeckte eher zufällig diese verschwundene Welt. Der Heisinger Musiker machte hier Rast auf einer seiner Wanderungen. Dabei erblickte er die Ruine. Was war das überhaupt? Überreste einer alten Ritterburg? Er suchte nach Antworten und fand die Geschichten der früheren Bewohner. Entstanden ist daraus erst das Hörspiel-Projekt.
Der etwa sechs Meter hohe Sockel eines Kamins aus dem Jahr 1890 erinnert an längst vergangene Industriekultur und steht seit 1989 unter Denkmalschutz. Er ist das letzte Relikt einer zur Zeche Victoria gehörenden kleinen Bergarbeitersiedlung. Nicht mehr als zehn Gebäude, etwa 20 Familien wohnten hier. 1970 wurden alle Häuser abgerissen und die Menschen in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Was von ihnen bleibt, sind die Erinnerungen.
Zwei Männer stehen nun im Walde und wirken etwas verloren. Es sind Zeitzeugen, die vom Leben hier, von einer nicht einfachen, aber doch wunderschönen Kindheit zu berichten wissen. Das haben sie bereits vor rund einem Jahr getan, als das Vorhaben startete. Denn die Relikte im Wald, die verschwundene Siedlung und die Geschichten der früheren Bewohner, das alles faszinierte Ralf Kaupenjohann, der beruflich als Musiker an der Folkwang Musikschule unterrichtet. Er stürzte sich damals mit Musikerkollegen Markus Emmanuel Zaja und Autor Peter Gerold aus Stoppenberg in das Projekt „Der Turm im Wald - wie mit einer Zeche Heimat entstand und auch wieder verschwand“. Tom Briele dokumentierte die Arbeiten, begleitete sie mit der Kamera.
Hier geht’s zum Turm
Von der Nierenhofer Straße 62 geht es in den Dattenberg, dann links auf einen Schotterweg. Der Weg gabelt sich erneut, links führt der mit einem K gekennzeichnete Wanderweg nach oben zum Turm.
Der Kaminsockel von Zeche Victoria ist Teil des Kulturpfades durchs Deilbachtal. Der Verein der Freunde und Förderer des Deilbachtals wird auch noch ein Schild anbringen. Die Tafel befindet sich hinter der Umzäunung des Turms, ist dort aber gut lesbar. Die Kulturbeauftragte der BV VIII Barbara Adolphs-Schröder (CDU) lobt den Ansatz, vergangene Zeiten mit künstlerischen Mitteln darzustellen: „Sozialgeschichte zum Anfassen. Welche Sorgen hatten die Leute damals?“
Was auch Bezirksbürgermeister Wilhelm Kohlmann (CDU) berührt: „Erinnerungen an die Menschen, die hier gearbeitet und gelebt haben. Die Dialoge der Hörspiele schaffen eine besondere Atmosphäre.“ Die nun allerdings wieder überwuchert werde, grollt Ralf Kaupenjohann und meint den ungepflegten Zustand in dem Bereich. Zur Aktion im Juni 2021 sei zwar alles freigeschnitten worden: „Doch nun fühlt sich wohl niemand mehr zuständig. Echt ärgerlich.“
Das Projekt „Der Turm im Wald“ wurde mit 25.000 Euro gefördert vom european centre for creative economy (ecce), das damals insgesamt sechs Essener Beiträge unter dem Stichwort Heimatruhr im Auftrag des NRW-Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung unterstützte
Die CD „Der Turm im Wald“ kostet 10 Euro und ist erhältlich über www.augemus-shop.de/cds/solo-kammermusik/1317/der-turm-im-wald. Informationen zum gesamten Projekt sind auf der Seite https://turm-im-wald.kzrme.de zu finden.
Kaupenjohann stöberte in alten Akten, führte Interviews mit ehemaligen Bewohnern, setzte Erinnerungsfetzen um in Hörspiele, die mit Schauspielern im Tonstudio aufgenommen wurden. Dazu die passende Musik. Nach einer Bespielung an elf Wochenenden vor Ort im Vorjahr, die dem Industriedenkmal ein akustisches Denkmal setzte, wird nun eine Hinweistafel mit QR-Code enthüllt.
Die Großfamilien lebten auf engem Raum in der Bergbausiedlung
Jetzt weist Wolfgang Busch ins Gebüsch, wo einst ein Haus stand: „Hier wurde ich 1956 geboren. Wir haben auf ganz kleinem Raum gelebt. Meine drei Geschwister und ich, Vater, Mutter, Onkel Erich und Tante Lisbeth. Mit Plumpsklo.“ Der Vater habe nach der Kriegsgefangenschaft erst in der Eisengießerei Schunke gearbeitet und dann auf Zeche Heinrich in Überruhr: „Als wir hier raus sollten, hat die Zeche meinen Eltern angeboten, in Eiberg zu bauen. Da wohne ich jetzt.“
Bei der Bahn fing Busch an, wurde Maschinenschlosser, später Elektrotechniker. Viele Kinder lebten hier: „Wir waren eine bunte Truppe. Hinter den Häusern war unser Bolzplatz.“ Der 1953 geborene Ulrich Mais lächelt: „Eine Büchse in die Mitte und alles trat dagegen.“ Was die beiden noch verbindet: „Agnes Wolf war unsere Hebamme. Die wohnte unten an der Nierenhofer Straße.“
Ulrich Mais zeigt in den Wald: „Unser Steigerhaus stand etwa 100 Meter in die Richtung.“ Busch grinst: „Dann warst du eigentlich Ausländer.“ Ziemlich abgeschottet habe man hier gelebt. Mais kontert: „Von wegen. Mein Großvater war hier auf Zeche Victoria und starb bereits jung an Staublunge. Und mein Vater war auf Pörtingssiepen.“ Fürs Gebiet typische Bergbaubiografien.
Ulrich Mais selbst lernte Fernmelder und ging dann zur Berufsfeuerwehr. Nun ist er im Ruhestand und kommt immer wieder hier her: „Dann sitze ich alleine auf der Bank und denke an früher.“ Die Erinnerungen sprudeln: „Da drüben hingen die geschlachteten Schweine von der Frau Theiß. Die Blasen der Tiere haben wir aufgeblasen und damit gekickt.“ Als einmal der tödliche Schlag der Axt den Schweinskopf verfehlte, sei die Sau quiekend weggerannt. Das war ein Spektakel.
Landete der Kartoffeltransporter im Graben, packten alle mit an
Wolfgang Busch lächelt: „Wir waren ja alle Selbstversorger.“ Mit Hühnern, Tauben und Hausschaf. Auch ihn und seine Geschwister zieht es immer wieder an den Turm: „Wir schwelgen dann in Erinnerungen. Das hier sind unsere Wurzeln.“ Er erinnert sich: „Wenn dieser riesige Lkw kam, um die Toiletten abzupumpen. Mit so großen schwarzen Röhren. Da hatte ich als Rotziger echt Angst vor.“ Oder wenn Kartoffeln geliefert wurden mit so einem wackligen Dreiradtransporter, der es kaum den Hang heraufschaffte und auch mal im Graben landete: „Da mussten wir alle mit anpacken.“
Katholische Kinder wie Wolfgang Busch mussten den Berg hoch zur Oberbyfanger Schule: „Frau Sondermann war unsere Lehrerin.“ Evangelische wie Ulrich Mais mussten sich auf den langen Fußmarsch nach Kupferdreh zur Deilbachschule machen.
Die neue Tafel ersetzt zwar nicht die lebendig erzählten Geschichten und Anekdoten der früheren Bewohner, doch sie trägt dazu bei, dass diese nicht vergessen werden.