Essen-Frohnhausen. Wie war es in der Nazizeit als jüdisches Kind? Ruth Weiss erlebte Ausgrenzung hautnah. Jetzt sprach sie an einer Schule in Essen-Frohnhausen.
Am Rheinisch Westfälischen Berufskolleg für Hörgeschädigte war am Donnerstag eine der letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus zu Gast. Die Journalistin und Schriftstellerin Ruth Weiss (98) berichtete vor Schülerinnen und Schülern aus ihrem Leben.
„Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, hat sich alles sehr schnell geändert“, berichtete Weiss vor einem gebannten Publikum. Ihr Gespräch, moderiert von Verleger Lutz Kliche, wurde sowohl mit Video auf Großbildleinwand übertragen als auch simultan von Gebärden-Dolmetschern auf der Bühne übersetzt.
Ruth Weiss hat für renommierte Medien gearbeitet
Ans Rheinisch Westfälische Berufskolleg für Hörgeschädigte an der Kerckhoffstraße, als Bildungseinrichtung ihrer Art in Deutschland einzigartig, gehen mehr als 1000 Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet. Sie haben unterschiedliche Beeinträchtigungen ihrer Hörorgane.
Ruth Weiss, die 1936 nach Südafrika auswanderte und später eine erfolgreiche Journalistin wurde, die für renommierte Medien wie den „Guardian“ in Großbritannien oder die „Deutsche Welle“ in Köln tätig war, berichtete eindrücklich aus ihrer Kindheit und Jugend. Sie wuchs in der Nähe von Fürth bei Nürnberg auf, und es liegt unter anderem an Julius Streicher, einem glühenden Nationalsozialisten und Antisemiten, dem Gründer der Hetz-Zeitung „Der Stürmer“, dass im Frankenland die Nazidiktatur schnell im Alltag Fuß fasste. Stürmer, berichtete Ruth Weiss, war vor der Machtergreifung der Nazis Grundschullehrer gewesen, aber wegen seiner rassistischen und antisemitischen Einstellung mit einem Berufsverbot belegt. Also gründete er den „Stürmer“, um seine Hetze zu verbreiten. „Heute“, sagt Ruth Weiss trocken, „würde man sagen, die Zeitung war voller ,Fake News’, also lauter Lügen.“
Nach 1933 war Stürmer Gauleiter in Franken, und es ging ganz schnell, da saß Ruth Weiss alleine in der Klasse, kein Kind wollte mehr neben einer Jüdin sitzen. Mädchen mieden sie auf dem Schulhof, Jungs bewarfen sie mit Mist. Ihr Vater verlor schnell seinen Beruf, „es war zum Weinen“. Auf dem Weg zur Schule wurde sie überfallen, einmal auch auf dem Weg zur Synagoge, „wir durften ja gar nicht mehr alleine nach draußen“.
Sie spricht von Einsamkeit, weil Treffen nicht mehr möglich waren. „Täglich kamen neue Verordnungen, die uns das Leben schwerer machten. Treffen wurden verboten, Partnerschaften mit Nicht-Juden wurden verboten.“ Sie erlebte das als eine bleierne Traurigkeit und Angst, die Einzug hielt in der Familie. „Man spürte, dass alle ängstlich waren.“
Sie erlebte, wie die Männer der SA jüdische Geschäfte bewachten nach dem Boykott („Kauft nicht bei Juden“), um zu protokollieren, wer sich nicht dran hielt.
Engagement in Südafrikagegen Apartheid
Nachdem die Nazis 1935 die Rassengesetze erlassen hatten, ging die Familie weg, der Vater zuerst, Ruth Weiss kam ein Jahr später nach. Weil sie die Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt hatten, kämpfte sie in Südafrika fortan gegen Apartheid, die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung. Sie lebte ein bewegtes Leben mit späteren Stationen in London, Köln, Simbabwe, Lüdinghausen (Westfalen) und schließlich Dänemark, wo sie heute zu Hause ist.
Den Beginn ihrer Erzählungen nutzte sie, um die Jugendlichen auf eine Tatsache hinzuweisen, die gerne in Vergessenheit gerät: „80 Millionen Deutsche gab es zum Zeitpunkt der Machtergreifung – was schätzen Sie, wie viele Juden gab es damals im Land?“, fragte sie in die Runde. Manche meldeten sich und schätzen – fünf Millionen, acht Millionen, 30 Millionen . . . „Es waren gerade mal eine halbe Million“, stellte Ruth Weiss klar.
So lange es möglich ist, dass Zeugen der Nazizeit vor jungen Menschen sprechen können, ist es ein Geschenk für jeden, der da mal zuhören darf.