Essen-Nordviertel. Das Café Zwingli ist Anlaufstelle im Essener Nordviertel. Die Betreiberin erzählt von skurrilen Erlebnissen und falschen Vorurteilen.
Auf dem Gesicht ein Lächeln, in der Hand einen schwarzen Tee auf einer weißen Untertasse: So schreitet Sakine Yaprak die drei Stufen hinab auf die Terrasse des Café Zwingli im Essener Nordviertel. Vorbei an unzähligen blühenden Blumen setzt sie sich unter den Sonnenschirm an einen der Tische. Es ist 14 Uhr: „Ich muss gleich mal frühstücken“, sagt die 55-Jährige.
Nordviertel Stadtteil mit höchster Kinderarmut in Essen
Morgens komme sie nicht dazu. Bevor das Café um 10 Uhr öffnet, muss sie täglich einkaufen – „bei mir ist alles ganz frisch“ – und dann kommen schon die Gäste und bestellen ihre Rühreipfanne. Dazu gibt es Brötchen und Tee, Marmelade und etwas Salat. Das kostet derzeit insgesamt 6,50 Euro. „Mehr kann ich nicht nehmen“, erklärt Yaprak. Die finanzielle Situation der Menschen im Nordviertel spiele für sie keine Rolle, wie sie explizit betont.
Die offiziellen Zahlen zeigen aber, dass die Menschen dort nicht mit Reichtum gesegnet sind. Tatsächlich ist die Kinderarmut im Nordviertel, zu dem das Eltingviertel gehört, hoch. 75 Prozent der Eltern, die ihre Kinder zur Nordviertel-Grundschule schicken, sind Bezieher des Bildungs- und Teilhabepakets. Das sei für die Cafébesitzerin absolut irrelevant. Die Menschen würden ihr sehr am Herzen liegen – unabhängig von ihrer finanziellen Lage.
Die Kinder aus dem Eltingviertel haben am Zwingliplatz eine Anlaufstelle, denn Sakine Yaprak ist immer da. Einmal hätten sie ihr ein verletzte Tier in einem Karton gebracht – wohl wissend, dass sie damit zu Hause nicht ankommen dürften. „Ich habe sie gelobt, dass sie das Tier nicht einfach ignoriert oder in die Mülltonne geschmissen haben“, erinnert sich die Essenerin. Das Ende vom Lied: Sie hat das Tierheim angerufen, die seien mit zwei Mitarbeitern vorbeigekommen und hätten das Tier abgeholt. Für die Kinder gab es Bonbons auf die Hand.
Aushilfen zu finden ist in der Gastro-Branche sehr schwierig
Als Yaprak das erzählt, kommen zwei ihrer eigenen Kinder vorbei: „Die helfen immer, wenn sie können“, so die Cafébetreiberin, die zwar nicht hier wohnt, ihr Leben aber seit der Eröffnung vor drei Jahren fast ausschließlich im Nordviertel verbringt. Es sei so gut wie unmöglich, Aushilfen zu bekommen, also schmeißt sie den Laden alleine. Wobei, alleine stimme nicht ganz, denn ihre Stammgäste würden oft helfen: „Sie fragen, ob sie die Blumen gießen sollen und ob sie die Tische abräumen sollen.“
Viele Stammgäste kämen tatsächlich aus anderen Stadtteilen – ja, auch aus dem Essener Süden. Für die könne sie die Preise auch nicht erhöhen, denn dann würden die nicht mehr so oft kommen. Wenn die Terrasse voll ist, sei die Stimmung oft gut. Dann gehe ihr Herz auf. „Blau blüht der Enzian“ hätten letztens alle gemeinsam gesungen. Ihre Gäste seien wie eine große Familie, wenn sie aus unterschiedlichen Stadtteilen kommend, auf ihrer Terrasse sitzen. „Dann unterhalten sich plötzlich alle gemeinsam und so bauen die Leute auch Vorurteile über das Nordviertel ab.“
Brandserie, Drogengeschäfte, Müllproblematik im Essener Eltingviertel
„Ich hatte vorher selbst Bedenken, wurde aber eines Besseren belehrt“, so Yaprak, die nach eigenen Angaben noch nie schlechte Erfahrungen gemacht hat im Café Zwingli. Einem Ort, an dem diverse Nationen aufeinandertreffen. Wieder betont die Essenerin, dass sie ihren Job wegen der Menschen liebt, denen sie begegnet, ganz unabhängig von deren sozialer Situation.
Wieder zeigen die Fakten: Die meisten, die hier leben, haben wenig Geld. Die Arbeitslosenquote liegt im Nordviertel mit 13,5 Prozent (Angaben der Stadt von 2021) deutlich über dem Essener Durchschnitt von 9,7 Prozent.
Jetzt, am Mittag queren nur wenige Menschen den Zwingliplatz. Es ist ruhig. Die Sonne brennt, in einem grünen Plastikstuhl vor dem angrenzenden Bücherschrank sitzt ein Mann mit weißem Vollbart und schaut den Tauben zu. Friedlich scheint der Ort. Unweit entfernt haben Anfang des Jahres jedoch häufig Mülltonnen gebrannt, der Müll ist hier überhaupt immer wieder ein Problem, weil er auch am Straßenrand liegt. Auch über Drogenkonsum hatten sich Bewohner im Sommer vergangenen Jahres beschwert.
Ein Team aus Anwohnern, Mitgliedern des Wohnungsunternehmens Vonovia, den Quartiershausmeistern und Sozialarbeitern der Caritas SkF-Essen und dem „Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung“ (ISAAB) der Uni Duisburg-Essen hält dagegen, mit Gesprächen, Beratungen und Nachbarschaftsfesten. Sie setzten sich für Austausch und das nachbarschaftliche Zusammenleben des multikulturellen Quartiers ein: 8500 Essener hatten im Juni ihren Hauptwohnsitz im Nordviertel, 45 Prozent davon nach Angaben der Stadt keine deutsche Staatsangehörigkeit (zum Vergleich Heisingen: 4 Prozent).
Café-Betreiberin aus Essen stammt aus Gastro-Familie
„Die Menschen brauchen hier jemanden, der dafür sorgt, dass sie miteinander klarkommen“, glaubt Sakine Yaprak, die Wert darauf legt zuzuhören. Wenn jemand seine Sorgen teilen will, müssten die Café-Gäste schonmal warten. Und die hätten Verständnis dafür. So habe ein Ehepaar kürzlich von seinem schwer kranken Kleinkind erzählt, eine andere ist schwanger und hatte furchtbaren Hunger auf Gulasch und ein dritter hatte sich zu Hause ausgeschlossen. „Das war der da“, sagt Yaprak lachend und ruft einen jungen Mann mit riesiger grüner Brille auf der anderen Straßenseite. Der kommt hinüber, strahlt, legt die Hände zusammen und sagt: „Ich bin froh, so nette Leute hier zu kennen.“ Dann verschwindet er wieder. Er habe sein T-Shirt als Hose getragen, sonst nichts am Körper und die Cafébesitzerin um Hilfe gebeten, erzählt Yaprak mit einem sanftmütigen Lachen. Sie helfe auch, wenn jemand Salz brauche oder vergessen habe, Eier zu kaufen – irgendwie ist sie ja auch eine Nachbarin. Eine, die immer da ist.
Zur Person
Sakine Yaprak ist gelernte Krankenschwester. Durch eine Verletzung war ihre Hand gelähmt und sie konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben. Zu Hause zu sitzen habe sie depressiv gemacht. Durch eine glückliche Fügung sei sie auf das Café am Zwingliplatz im Eltingviertel aufmerksam geworden. Das sei ihre Therapie gewesen.
Geöffnet ist täglich von 10 bis 14 und von 17.30 bis 22 Uhr. Samstags entfällt die morgendliche Öffnungszeit.
Das Herz der Essenerin scheint unendlich groß. Das allein macht den Geldbeutel aber nicht voll. „Ich hänge immer hinterher“, sagt die Gastronomin, die aus einer Herdecker Gastro-Familie stammt. Seit ein paar Wochen bietet sie jetzt Abendessen an und hat bis 22 Uhr geöffnet. Dadurch komme etwas mehr Geld rein. Was auf der Karte steht? „Ach, irgendwo habe ich die, aber danach fragt eigentlich niemand.“ Es gibt das, was sie kocht. Hähnchen mit Spätzle und Sahnesoße, mit Hackfleisch gefüllte Auberginen, Lahmacun oder eben das, was die Gäste wünschen, wie zum Beispiel Gulasch. „Abends bin ich total erschöpft“, sagt Yaprak. Seit einigen Tagen habe sie jetzt doch eine Aushilfe – Cora.
Cora kommt während des Gesprächs ebenfalls auf die Terrasse und redet auf ihre Chefin ein. „Anstatt, dass sie deutsch lernt, spricht sie nur spanisch mit mir, ich verstehe aber kein spanisch“, sagt Yaprak, die auch das mit Humor nimmt. Cora komme ursprünglich aus Kuba, wohne im Nordviertel und sei sehr hilfsbereit. Yaprak: „Leider kommt sie immer, wenn sie will, nicht wenn ich sie brauche.“ Jetzt kann sie Cora aber gerade gut gebrauchen, denn sie hat vergessen, den Laden um 14 Uhr zu schließen. Also ist noch ein Gast gekommen, der jetzt bedient werden will und Yaprak selbst wollte ja noch frühstücken, bevor die Abendgäste kommen.