Essen. Jannis (3) kam gehörlos zur Welt. Dank des Cochlea Implantats kann er heute hören und sprechen. Die frühe OP ermöglicht eine normale Entwicklung.

Als Jannis geboren wurde, hörte er die Stimme seiner Mutter so wenig wie die Geräuschkulisse im Kreißsaal: Er kam in eine stille Welt. Heute ist er drei Jahre alt und von Geräuschen umgeben: ob Flüstern, Vogelgezwitscher, Staubsauger oder das Getümmel in der Kita – das Cochlea Implantat (CI) überträgt es zuverlässig für den kleinen Jungen. „Er hört alles“, sagt seine Mutter Christin Radau und fügt lächelnd hinzu: „Auch das, was er nicht hören soll.“

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Und das ist für Jannis’ Eltern ein Glücksfall. Dass ihr Sohn wenig hört, sei schon bald nach der Geburt aufgefallen und durch das Hör-Screening für Neugeborene bestätigt worden. Es gebe keine erbliche Veranlagung, niemand in der Familie habe eine Hörschädigung, sagt Christin Radau. „Darum war es erstmal schon ein großer Schock, als klar war, dass er nicht nur Wasser hinter dem Ohr hat. Da haben wir geweint. Aber wir haben das sehr schnell verarbeitet und gewusst: Unser Kind ist toll.“

Für die Eltern war Gebärden wie eine Fremdsprache

Geholfen hat den Eltern wohl auch, dass die Uniklinik Essen Jannis sofort mit einer umfangreichen Diagnostik begleitete: Um zu sehen, wie sehr sein Hörvermögen geschädigt ist und was man für ihn tun kann. Schon mit drei Monaten bekam er seine ersten Hörgeräte, „doch für Jannis reichten sie nicht aus, um Sprache zu verstehen“, sagt Prof. Dr. Diana Arweiler-Harbeck, die das CI Centrum Ruhr an der Uniklinik leitet. Leidensdruck habe das Baby nicht, wie selbstverständlich orientiere es sich an Mimik und Gestik, beginne von den Lippen zu lesen. „Das kann er bis heute perfekt“, erzählt seine Mutter.

Sie und ihr Mann wiederum hätten angefangen, Gebärden zu lernen, um Jannis zu unterstützen. „Für uns war das eine komplette Fremdsprache.“ Perfektionieren mussten sie die nicht, denn mit 15 Monaten wurden Jannis auf beiden Seiten Cochlea Implantate eingesetzt. Die winzigen Geräte umgehen die beschädigten Haarzellen in der Hörschnecke und stimulieren direkt den Hörnerv. Das Gehirn kann aus den Signalen Geräusche und Sprache ermitteln.

Prof. Dr. med. Diana Arweiler-Harbeck mit  Cochlea Implantaten.
Prof. Dr. med. Diana Arweiler-Harbeck mit Cochlea Implantaten. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Eine möglichst frühe Operation sei sinnvoll, weil die Sprachentwicklung ja schon vor der Geburt beginne. Im Alter von einem, anderthalb Jahren sei der Kopf der Kinder groß genug und sie vertrügen die Narkose gut, sagt Diana Arweiler-Harbeck. „Kinder, die die Implantate so früh bekommen, machen eine völlig normale Entwicklung von der Kita bis zur Schullaufbahn.“

Ein Team kümmert sich um das Zusammenspiel von Kind und Gerät

Das klappt allerdings nur, wenn dem Eingriff eine „interdisziplinäre Untersuchungskaskade“ vorangehe und eine intensive, mehrjährige Reha-Phase folge. Das Gerät muss programmiert werden; drei Wochen nach der OP, wenn die Wunde verheilt ist, wird es eingeschaltet. Es muss beobachtet werden, wie das Kind mit der Lautstärke klarkommt, wie es auf die neuen Impulse reagiert. Ein mehr als 20-köpfiges Team kümmere sich um das Zusammenspiel von Implantat und Patient: „Vom Techniker bis zum Therapeuten“, sagt Heike Bagus, audiologisch therapeutische Leiterin am CI Centrum Ruhr. Lebenslang steht einmal jährlich eine Kontrolle an; die Implantate halten 20, 25 Jahre.

Wie das Cochlea Implantat ein Sinnesorgan ersetzt

Mit der Entwicklung des Cochlea Implantats ist es erstmals gelungen, ein Sinnesorgan zu ersetzen und somit gehörlosen Menschen, die von einem Hörgerät keinen Nutzen haben, das Hören zu ermöglichen. Im Jahr 2018 waren in Deutschland 40.000 hörgeschädigte Menschen mit einem CI versorgt, davon sind 40 Prozent Kinder. Kinder erhielten erstmals 1981 ein Cochlea Implantat. Seitdem hat die Entwicklung dieses Systems große Fortschritte gemacht – und es ist ein Standardeingriff geworden.

Cochlea-Implantate umgehen die beschädigten Haarsinneszellen in der Hörschnecke (Cochlea) und stimulieren direkt den funktionsfähigen Hörnerv. Das System besteht aus zwei Hauptkomponenten: 1. dem in einem chirurgischen Eingriff unter die Haut eingesetzten Implantat, an dem ein Elektrodenträger befestigt ist, der in die Hörschnecke geschoben wird. 2. dem externen Sprachprozessor mit Sendespule, der außen am Kopf getragen wird, über einen Magneten hält und jederzeit abnehmbar ist.

Der Prozessor nimmt Schallwellen auf und verwandelt Sprache in einen elektrischen Code, den er zur Sendespule schickt. Die gibt den Code an das Implantat weiter. Über eine Kabelverbindung gelangen diese elektrischen Impulse zum Elektrodenträger in der Hörschnecke. Die Elektroden stimulieren den Hörnerv, der die Signale an das Gehirn weiterleitet, das sie als Sprache und Geräusche interpretiert.

Idealerweise passe man gleich beide Implantate an und stelle sie von Termin zu Termin feiner ein. Die Eltern werden mit Informationen versorgt – und mit Zubehör: von Ersatzteilen über schützende Schwimm-Hüllen für das Gerät bis zu Mini-Mikrofonen, mit denen sie (oder später die Lehrer) ihr Kind über große Entfernungen ohne störende Nebengeräusche ansprechen können.

Zum Kontrolltermin kam der dreijährige Jannis mit seiner Mutter Christin Radau jetzt in die Uniklinik. Prof. Dr. Diana Arweiler-Harbeck (l.), die das CI Centrum Ruhr leitet, und die audiologisch therapeutische Leiterin Heike Bagus (r.).
Zum Kontrolltermin kam der dreijährige Jannis mit seiner Mutter Christin Radau jetzt in die Uniklinik. Prof. Dr. Diana Arweiler-Harbeck (l.), die das CI Centrum Ruhr leitet, und die audiologisch therapeutische Leiterin Heike Bagus (r.). © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Sie erfahren, wie sie ihr Kind am besten unterstützen können, damit es sprechen lernt. Reden, vorlesen, erklären, singen… Bagus bringt es auf die Formel: „Die Kinder brauchen alles, was andere Kinder auch brauchen. Nur mehr davon.“ In der Regel laufe der Spracherwerb dann so gut, „dass sich die Eltern manchmal ein Pflaster wünschen, damit der Mund mal zwei Minuten still ist“. Umgekehrt könne das Kind jederzeit völlige Ruhe haben, wenn es den Sprachprozessor abnehme. „Jannis nutzt das manchmal nach der Kita oder wenn er müde wird“, bestätigt Christin Radau.

Überdeutlich oder besonders laut müssen die Eltern übrigens nicht sprechen: „Am besten erlernen die Kinder eine völlig normale Sprachmelodie.“ Kinder, die mit den Cochlea Implantaten aufwachsen, verstehen auch sehr schnell sprechende Eltern. Und: „Mehr als die Hälfte der Kinder hier sind bilingual, die sprechen Deutsch und Türkisch oder Arabisch“, sagt Heike Bagus.

Er hört seine Mutter jetzt auch, wenn sie am anderen Ende der Wohnung ist

Alle Eltern wünschten sich glückliche Kinder, die einmal ein selbstständiges Leben führen können, das CI leiste dazu einen großen Beitrag, sagt Diana Arweiler-Harbeck. Vor einem Vierteljahrhundert habe es an der Uniklinik jährlich vielleicht 15 der Operationen gegeben, heute seien es 150 bis 170 im Jahr.

„Ich freue mich, wenn ich die Kinder mit Anfang 20 sehe, sie studieren oder eine Ausbildung gemacht haben“, sagt die Medizinerin. Und Christin Radau freut sich, dass ihr Sohn ins Schwimmbad gehen, auf dem Spielplatz toben, die Kita besuchen kann. Dass er sie auch versteht, wenn sie ihm etwas vom anderen Ende der Wohnung zuruft, dass er ein fröhliches Kind ist, das Musik liebt. Ein Kind, das wie viele Dreijährige gern redet und Fragen stellt. Wie sagt seine Mutter: „Vor dreieinhalb Jahren haben wir uns gefragt, ob unser Kind jemals sprechen wird. Jetzt sagen wir manchmal: Boah Jannis, nun ist mal gut.“