Essen. Weingummi, Lakritz, ein Bier, dazu ein Plausch: Nicht nur zum Tag der Trinkhallen wird diese Kiosk-Kultur gelebt. Ein Blick in Essener Büdchen.
Früher hat Jürgen Hentschel am liebsten Micky-Maus-Hefte und Violas gekauft, die Comics und die kleinen, lilafarbenen Lakritz-Bonbons gab es am Büdchen. „Mit dem Taschengeld bin ich da sofort rüber“, erinnert er sich an seine Kindheit. Heute steht der 57-Jährige in seinem Büdchen am Kaiser-Otto-Platz in Steele, verkauft selbst die gemischte Tüte, Wassereis, Zeitungen und Getränke. Damit führt er die Büdchen-Kultur fort und lädt nicht nur zum Tag der Trinkhallen ein – wie elf weitere Kioskbetreiber in Essen.
Zu Livemusik kommen die Besucher und Besucherinnen in Steele zusammen; wie auch in Rüttenscheid, wo an der Hedwigstraße vor der Verkaufshalle Sven Lauer anatolische Klänge ertönen, Nachbarn in der entspannten, abendlichen Stimmung auf Bänken, Hockern oder Decken sitzen, anstoßen und Kinder mit Kreide auf die Fahrbahn des gesperrten Straßenabschnitts malen.
Klaus-Lage-Band-Mitbegründer spielt in Essen-Steele
Zum dritten Mal findet der Tag der Trinkhallen seit 2016 im Ruhrgebiet statt. Der Bredeneyer Treff hat zu einer musikalischen Weltreise eingeladen, auf die ein Folkwang-Absolvent die Gäste mitnimmt. So gibt es an der Bredeneyer Straße Jazz und in Altenessen das Motto „Fußball ist zum Singen da“. Kurvensongs und Vereinshymnen haben die Musiker aus Herne zum Mitsingen mitgebracht, mit „Tief im Westen“ und dem „Zebra-Twist“ feiern sie an der Hospitalstraße vor Susis Büdchen, das seit 50 Jahren ein Treffpunkt für die Nachbarn ist.
„1000-mal berührt“ hat die Klaus-Lage-Band einst gesungen, nun spielt deren Mitbegründer Martin Engelien auf dem Kaiser-Otto-Platz. Hier an der Ecke ist der Gemüsehändler längst dem Laden für Autokennzeichen gewichen, das Büdchen nebenan aber ist geblieben. „Das besteht seit den 1950ern“, weiß Jürgen Hentschel, der dieses vor rund fünf Jahren gepachtet hat.
Die gemischte Tüte und das Wassereis verkauft er nach wie vor im Büdchen
„Ein Sommer mit dem Cowboy“ oder „Ein Ritter zwischen Betrug und Verlangen“ heißen die Titel der Romane, die es früher für zehn Groschen gab. Daneben finden sich Hunde- und Katzen-Magazine, ein Zeitungsständer und Lollis vor der Verkaufstheke, darin Lakritz, Weingummi, Getränke und Eis. „Am meisten verkaufe ich aber Zigaretten und Tabakwaren“, sagt Jürgen Hentschel, der seinen Verkaufsraum auf neun Quadratmetern liebevoll Gang nennt.
Viel renoviert habe er hier in seinem Büdchen, aufgeräumter fänden das nun manche Kunden, vieles aber sei eben auch geblieben, wie etwa der Produktstamm („E-Zigaretten sind hinzugekommen“). Die gemischte Tüte und das Wassereis verkauft er nach wie vor. An das erinnert sich mancher, als es noch zehn Pfennig kostete, heute sind es 15 Cent. Geht ja noch, findet Jürgen Hentschel und glaubt vielmehr, dass die Plastikverpackung irgendwann das Aus bedeuten könnte.
Eine Schankerlaubnis wäre für den Büdchen-Pächter zu teuer
Geblieben sind zudem zahlreiche Stammkunden, die mit ihren Anekdoten auf einen Kaffee oder Kakao vorbeikommen. Ein Bier vor dem Büdchen, so wie viele es vor Augen haben, das gehe wiederum nicht, sagt Jürgen Hentschel, der die Flaschen nur geschlossen verkaufen dürfe: „Eine Schankerlaubnis wäre sehr teuer, zudem bekommt die längst nicht jeder.“ Ohnehin habe er seit Corona den Tisch vor dem Büdchen abgebaut und hofft nun, dass die Büdchen-Kultur die Pandemie überlebt.
„Früher gab es öfter eine Versammlung“, sagt der 57-Jährige, der seinen neuen Job auch wegen des Kontaktes zu den Menschen und so manchem Plausch gern mag. Dabei war es eine Notlage, die ihn an den neuen, insgesamt 15 Quadmeter großen Arbeitsplatz führte. Davon nimmt der Verkaufsraum neun Quadratmeter ein, den er liebevoll Gang nennt. Zuvor war er im Außendienst unterwegs, hat Lehrlinge ausgebildet und geglaubt, bis zur Rente als Informationstechniker-Meister zu arbeiten. Bis er seinen Job in dem Betrieb verlor, dessen Mitarbeiter Büromaschinen vertrieben, installiert und repariert haben.
In der Trinkhalle in Essen-Steele sind vier Mitarbeiterinnen angestellt
„Muss ja weitergehen“, hat Jürgen Hentschel damals gedacht und weil die Selbstständigkeit ein Thema gewesen ist, warum dann nicht ein Büdchen. Das hat täglich von sechs Uhr morgens bis abends um sieben geöffnet. „Nachts lohnt sich das nicht, da verirrt sich hier keiner“, sagt der Chef, der selbst von montags bis samstags vor Ort ist – oder auch „an der Schüppe“, wie es eine Kundin nennt. Vier Mitarbeiterinnen hat er angestellt, darunter Monika „Moni“ Hensen.
Die Frillendorferin arbeitet seit zehn Jahren in der Trinkhalle. „Büdchen gab es doch immer schon“, sagt die 73-Jährige, die in Schonnebeck aufgewachsen ist, wo sie sich an Kaugummis, gefüllte Ufos, Rollmöpse und Eis in dem kleinen Büdchen erinnert – Mini-Milk am Stiel. Später, Anfang der 1980er hat ihre Nichte eine Trinkhalle in Stoppenberg eröffnet. Inzwischen aber sei sie weggezogen und in den Räumen befinde sich jetzt eine Wohnung, berichtet Monika Hensen vom Büdchen-Sterben.
Früher konnten Stammkunden im Büdchen anschreiben lassen
Auf dem Kaiser-Otto-Platz aber geht es sehr lebendig zu, nicht nur an diesem Abend. Auch im Alltag kämen die Menschen nicht nur her, um eine Zeitschrift oder eine Geburtstagskarte zu kaufen, ein paar Sätze gehören immer dazu. Mindestens. Manche wollten anschreiben lassen, da sie gerade aus dem Knast oder Krankenhaus kämen – oder das zumindest berichten. Doch da winkt Monika Hensen ab. Früher, da sei das Ehrensache für Stammkunden gewesen, inzwischen seien sie zu oft auf den Bons sitzengeblieben.
Was am Büdchen bleibt, ist das offene Ohr für die lustigen und traurigen Geschichten, für die kleinen und größeren Dinge aus dem Leben, für die Sorgen und Nöte auch. „Hier erleben Sie Storys, da können Sie nur von träumen“, verrät Monika Hensen. Mehr nicht. Wenn sie mal aufhören werde in dem Büdchen am Kaiser-Otto-Platz, ergänzt sie augenzwinkernd, „dann schreib’ ich ein Buch“.