Essen. Wie kommen Bürger mit Kleinstrente und Magerverdienst durch die Gaspreiskrise? Essens Sozialdezernent sieht das Problem – aber noch keine Lösung.
Hinlegen und zudecken, Beine höher platzieren und gut zureden: So sieht sie aus, die Erste Hilfe bei einem Schock. Für das, was Erdgas-Kunden da in ein paar Wochen, spätestens Monaten ereilt, sind solche Tipps leider wenig hilfreich: Gut 30 Prozent höhere Preise durch die Umlage zur Rettung des Gaslieferanten Uniper schon im Oktober, dazu eine Verdopplung des alten Tarifs bis Januar, der dreifache Preis gar ab 2024 – lange bevor die Kundschaft aus Panik vor der Preisexplosion die Heizung runterdreht, bekommen angesichts dieser Aussichten so langsam auch Stadt und Stadtwerke kalte Füße. Braucht es nun doch einen Härtefall-Fonds für ärmere Gas-Kunden?
Noch im Februar winkte die schwarz-grüne Essener Ratskoalition bei einem entsprechenden Antrag der Linkspartei ab, während die Sozialdemokraten sich im Rat der Stimme enthielten: Ein Härtefall-Fonds? Nicht nötig, hieß es da: Allzu voreilige Sperren für säumige Zahler müsse man verhindern, klar, aber ansonsten reiche doch aus, die Leute in Fragen des Energiesparens zu beraten. Und dann gab es ja noch, was es immer gibt, wenn die Politik sich einstweilen galant ein heikles Thema vom Hals schaffen will: einen runden Tisch.
In München haben sie den Topf mit 20 Millionen Euro gefüttert. Wer profitiert, ist unklar
Der hat seit Februar ein paar Mal getagt, Ergebnisse werden noch zusammengetragen, aber wirklich lösen kann er das Problem ohnehin nicht, zumal die im Februar absehbaren Preiserhöhungen längst weit übertroffen wurden: Am Tag nach der Ratssitzung marschierten russische Truppen in der Ukraine ein, seither schnellen die Kosten hoch, weshalb auch Stadtwerke-Chef Peter Schäfer in diesen Tagen darüber sinniert, ob er dem Beispiel seines Münchner Stadtwerke-Kollegen Florian Bieberbach folgen und für die Kundschaft einen Härtefallfonds auflegen soll.
Über 100.000 Empfänger von Transferzahlungen
In Essen lebt jeder Sechste, alles in allem rund 100.000 bis 105.000 Essenerinnen und Essener, ganz oder teilweise von Transferleistungen.
Hartz IV steht dabei weit vorne: Essen zählt derzeit 41.310 Bedarfsgemeinschaften mit 83.876 Personen im Bezug von Grundsicherung.
Grundsicherung im Alter wird an 7014 Personen ausgezahlt, 4430 weitere empfangen Grundsicherung bei Erwerbsminderung (jeweils außerhalb von Heimen etc., denn dort gelten andere Regeln).
Und schließlich bekommen noch 5063 Haushalte mit 11.523 Personen Wohngeld sowie 2418 Erwachsene mit 6251 Kindern den Kindergeldzuschlag.
„Wärmefonds“ heißt der in München, um Verwechslungen mit anderen Härtefallfonds, etwa in Sachen Corona-Hilfen, zu vermeiden, und gefüllt ist der Topf in der bayerischen Hauptstadt mit immerhin 20 Millionen Euro. „Eine gegriffene Größenordnung“, räumt ein Sprecher der dortigen Stadtwerke ein, die in diesem Jahr schon zweimal die Preise erhöht haben. Aber wohl auch genug Geld, um damit ein Weilchen hinzukommen. Auch wenn tatsächlich noch gar nicht recht klar sei, wer da wann in welchem Umfang profitieren soll: „Wir nehmen uns die Zeit, das in Ruhe zu klären.“
Auch Essens Stadtwerke signalisieren: Was unsere Kunden verdienen, geht uns nichts an
Fest steht für die Münchner nur, dass es mit Vor-Ort-Energieberatung und allerlei Wettbewerben („Wer hat im vergangenen Jahr am meisten gespart?“) allein nicht getan ist. Schon jetzt wachse die Zahl besorgter Nachfragen spürbar: „Jahrelang wurden wir für unsere Energiespar-Tipps belächelt“, heißt es, „auf einmal hören uns alle zu“.
Wer dann am Ende als Härtefall eingestuft und mit einem Zuschuss bedacht wird, diesen Job überlassen die Stadtwerke München dem örtlichen Sozialreferat, denn „uns geht es nichts an, was unsere Kundinnen und Kunden verdienen“. Essens Stadtwerke-Chef sieht das auch so. In Essen wäre dies also der Job des Sozialdezernats unter den Fittichen von Stadtdirektor Peter Renzel, der schon vor Monaten seine Sorgen angesichts steigender Lebenshaltungskosten formuliert hatte.
„Wir brauchen verlässliche Zahlen“, sagt der Sozialdezernent, „und die haben wir nicht“
Renzel nimmt dabei vor allem die sogenannten „Schwellenhaushalte“ in den Blick. All jene also, die knapp über den Einkommensgrenzen für Transferleistungen aller Art liegen. Geringverdiener gehören genauso dazu wie viele der fast 133.000 Rentner, die laut Statistik auf eine rechnerische Durchschnittsrente von 1137 Euro kommen.
„Wir brauchen verlässliche Zahlen“, sagt Renzel, „und die haben wir noch nicht“. Ein Forschungs-Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung taxierte jüngst den Anteil der sozialversicherungspflichtig Vollzeit-Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle in Essen auf rund 15 Prozent. Aber wie viele knapp darüber liegen wie viele ohne einen Heiz-Zuschuss auf Ersparnisse zurückgreifen müssten – so sie denn welche haben – wenn sich ihre Gas-Rechnung plötzlich vervielfacht, darüber gibt es nichts. Eine Arbeitsgruppe soll deshalb „Szenarien durchspielen“, welchen (nicht nur) finanziellen Risiken die Stadt sich gegenüber sieht.
Für Peter Renzel geht es nicht nur um Geld, sondern am Ende auch um Psychologie
Aber solange nicht klar ist, welche Hilfen aus Land und Bund noch zu erwarten sind, welche Einkommensgrenzen wohin verschoben, wie die Wohngeld-Grenzen ausgeweitet werden – was soll da, schlussfolgert der Sozialdezernent, jetzt ein Härtefallfonds? Renzel hält ein solches Instrument bis auf weiteres für einen „Schnellschuss“, zumal es am Ende nicht nur um Geld, sondern auch um Kommunikation und Psychologie geht.
Wie erreicht man die Menschen, die einen Anspruch auf Hilfe haben? Wie nimmt man ihnen die Scham, sich zu den Bedürftigen zählen zu müssen? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin schätzt zum Beispiel, dass etwa 60 Prozent jener Menschen, die Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben, diesen nicht in Anspruch nehmen. „Auf die müssen wir aufpassen“, sagt Renzel, und es gilt, dabei keine Zeit zu vertrödeln: Mitte August dürfte feststehen, wie der erste Preisschock ausfällt.
Gut zureden wird da nicht reichen.