Essen-Rüttenscheid/Südviertel. Isa T. (61) aus Essen hat keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern. Für sie ist das die größte Krise ihres Lebens. Wie es dazu kam.

  • Seit etwa vier Monaten hat Isa T. kaum noch Kontakt zu ihrem ältesten Sohn. Für die 61-Jährige ist das sehr schmerzhaft.
  • Der Essenerin ist bewusst, dass auch sie sich falsch verhalten hat. Trotzdem fällt es ihr schwer, den Kontaktabbruch zu verstehen.
  • Eine neu gegründete Selbsthilfegruppe in Essen-Rüttenscheid soll ihr und anderen Betroffenen die Möglichkeit geben, sich auszutauschen.

Isa T. weiß, dass sie Fehler gemacht hat. Seit sie kaum noch Kontakt zu ihrem ältesten Sohn hat, hat sie viele Bücher gelesen. Darin hat sie Antworten gefunden. „Ich habe immer nur von mir gesprochen und ihn mit seinen Bedürfnissen nicht gesehen“, sagt sie heute. Jetzt, nach rund vier Monaten, schmerzt der Kontaktabbruch immer noch. Um sich mit anderen Betroffen austauschen zu können, gründet die 61-Jährige aus dem Südviertel deshalb eine neue Selbsthilfegruppe namens „Funkstille“. Das erste Treffen fand am Montag (11. Juli) im Rüttenscheider Zentrum 60 plus statt.

Isa T. hat zwei Kinder. Den ersten Sohn bekam sie mit 22, den zweiten mit 26. Ihren Zweitgeboren gab sie damals zur Adoption frei. „Ich war jung und überfordert“, sagt sie. Zwischenzeitlich habe Kontakt bestanden, mittlerweile aber nicht mehr. Seit März habe auch ihr erstgeborener Sohn nahezu vollständig den Kontakt abgebrochen. Isa T. bezeichnet das als „die größte Krise meines Lebens.“ Die beiden Enkelkinder habe sie seitdem ebenfalls nicht mehr gesehen. „Nur zum Muttertag und aus dem Urlaub kamen kurze Nachrichten von meinem Sohn.“

Streit mit Sohn und Schwiegertochter: „Hatte das Gefühl, dass ich nur gerügt werde“

Warum genau Sohn und Schwiegertochter sie nun meiden, versteht sie nicht. Aus ihrer Sicht sind es Kleinigkeiten, die immer wieder zum Streit geführt haben. „Zum Beispiel, wenn ich meinem Enkelkind mal Traubenzucker gegeben habe und mein Sohn und meine Schwiegertochter das nicht in Ordnung fanden“, sagt Isa T. „Ich hatte dann wiederum das Gefühl, dass ich immer nur gerügt werde.“ Außerdem habe sie den Eindruck gehabt, dass die Großeltern mütterlicherseits bevorzugt würden. „Dort durften die Enkelkinder immer schlafen, bei mir und meinem Mann nie.“ Ein Streit im März habe dann wohl bei Sohn und Schwiegertochter das Fass zum Überlaufen gebracht.

Seitdem hat sie sich viel mit dem Thema Kontaktabbruch beschäftigt, hat Ratgeber und Bücher von Therapeuten gelesen. So hat sie erfahren, dass es verschiedene Arten von Müttern gebe, deren Kinder sich nicht mehr bei ihnen melden. Sich selbst stuft sie erbarmungslos als „Mutter mit Defiziten“ ein. „Das sind Mütter, die ihren Kindern auf emotionaler Ebene nicht das geben können, was sie brauchen“, erklärt die 61-Jährige. „Ich habe immer nur geschrien ‘Ich’, ‘Ich’, ‘Ich’. ‘Ich darf dies nicht, Ich darf das nicht’. Anstatt meinen Sohn zu fragen, was er braucht und ihm zu sagen, dass ich ihn sehe.“

Essenerin war nicht zum Geburtstag der Enkelin eingeladen

Isa T. sagt, sie sei selbst in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen. Der Vater Alkoholiker, die Mutter nie da für die fünf Kinder. „Meine Mutter ist ein Kriegskind. Sie hat Vertreibung und Gewalt erlebt, mit zehn Jahren Leichen gesehen. Sie konnte uns keine Empathie oder Zärtlichkeit zeigen“, erzählt die Essenerin. Entsprechend schwer falle es ihr selbst manchmal, Herzlichkeit zu zeigen. Dass ihr Sohn nun kaum noch mit ihr spricht, kann sie trotzdem nicht nachvollziehen. „Ich habe trotz allem den Kontakt zu meiner Mutter nie abgebrochen, weil das für Eltern das Schlimmste ist.“, sagt sie. „Und auch den Enkelkindern nimmt man so viel, wenn man keinen Kontakt zu den Großeltern erlaubt.“

Nach dem Streit hat sie ihrem Sohn einen Brief geschrieben, sich entschuldigt und erklärt, dass ihr Verhalten mit ihrer eigenen Kindheit zu tun habe. Zuerst habe sie gar keine Antwort erhalten, berichtet sie. Auf Nachfrage habe ihr Sohn dann erklärt, sie müsse sich nicht entschuldigen. Doch dann sei nichts mehr gekommen. Zum Geburtstag der Enkelin sei sie nicht eingeladen worden.

Selbsthilfe in Rüttenscheid soll geschützten Raum bieten

Treffen im Zentrum 60plus

Das erste Treffen der Gruppe „Funkstille“ fand am Montag (11. Juli) im Zentrum 60plus in Rüttenscheid (Isenbergstr. 81) statt. Danach soll es alle zwei Wochen ein Treffen geben. In den Räumen dort gilt die 2G-Regel (vollständig geimpft/genesen).

Koordiniert wird die Gruppe vom Verein WIESE e.V. Dort kann man sich unter 0201 207676 oder per E-Mail an selbsthilfe@wiesenetz.de auch anmelden.

Freunde und Bekannte, so Isa T.s Erfahrung, hätten zu dem Thema häufig nicht viel zu sagen. „Da hieß es dann nur ‘Weiß ich auch nicht’ oder ‘Dann warte eben, bis die Enkel 18 sind’“, erzählt sie. „Außerdem will ich ja auch niemanden damit belasten.“ Nichtsdestotrotz habe sie gewusst: „Ich muss aktiv werden.“ In den Sozialen Medien sei sie vielen Eltern – vor allem Müttern – begegnet, denen es ähnlich gehe.

Manche von ihnen hätten eine ähnliche Geschichte wie sie. Manche aber auch eine ganz andere. „Da gibt es die Fälle, in denen entweder Eltern oder Kinder neue Lebenspartner haben und die Beziehung sich dadurch verschlechtert“, sagt sie. „Andere sagen ‘Ich habe doch alles für meine Kinder getan’, haben sich aber am Ende vermutlich zu viel eingemischt.“ Bei manchen liege der Kontaktabbruch noch nicht lange zurück, andere hätten seit zehn Jahren schon nicht mehr mit den Kindern gesprochen. Eines aber hätten sie alle gemeinsam: „Wir sehnen uns nach unseren Kindern. Man schließt nie damit ab.“

Die Selbsthilfegruppe in Rüttenscheid mit Namen „Funkstille“ soll betroffenen Eltern nun einen geschützten Raum geben, um sich auszutauschen. „Wichtig ist, dass wir uns nicht im Selbstmitleid suhlen. Wir sind keine Opfer, aber auch keine Täter“, betont Isa T. „Es geht einfach darum, nicht mehr allein damit zu sein.“