Essen. Die Essener Tafel hat erstmals seit April neue Kunden aufgenommen. Wieder mussten Bedürftige abgewiesen werden, weil es nicht genug Plätze gab.

Immer mehr Bedürftige wenden sich an die „Essener Tafel“, doch nicht jeder bekommt dort einen Platz. Der Andrang ist inzwischen so groß, dass Tafel-Chef Jörg Sartor am Mittwoch abermals einen Aufnahmestopp verhängte – diesmal gleich für acht Wochen. „Bis August sind wir voll“, sagte Sartor am Mittag im Gespräch mit der Redaktion. Zu diesem Zeitpunkt warteten draußen vor dem Wasserturm an der Steeler Straße noch Dutzende Menschen, um sich anzumelden.

Die ersten stellten sich schon morgens um sechs Uhr für eine Berechtigungskarte an – drei Stunden bevor die Tafel ihre Pforte öffnete. Die Schlange reichte schließlich bis weit um den Wasserturm herum. So mancher musste unverrichteter Dinge den Heimweg antreten.

108 Berechtigungskarten wurden vergeben, rund 180 Menschen standen dafür an

Der Andrang war wohl auch deshalb so groß, weil die Tafel den gesamten Mai über keine neuen Kunden aufgenommen hat. Erstmals seit 2019 hatte Tafel-Chef Sartor Bedürftige abweisen müssen. Dies sollte sich an diesem Mittwoch wiederholen. Rund 108 freie Plätze waren zu vergeben, etwa 180 Personen standen für eine Berechtigungskarte an.

Schon bei der letzten Aufnahme im April waren es 120 und damit deutlich mehr als sonst. In den letzten Jahren zählte Sartor immer um die 40 Neuaufnahmen.

Auffällig war diesmal, dass sich besonders viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine um einen Platz bemühten. Unter den 108 Personen, die eine Berechtigungskarte für den Bezug von Lebensmitteln erhalten haben, waren 105 Ukrainer, zwei Deutsche, drei stammten aus dem Irak, berichtet Jörg Sartor am Nachmittag. In der ukrainischen Community habe sich inzwischen herumgesprochen, dass es bei der Tafel fast kostenlos Lebensmittel gibt; Bedürftige zahlen dafür einen Euro, ein symbolischer Preis. 30 Personen seien am Mittwoch allein aus der Flüchtlingsunterkunft Kloster Schuir zum Huttroper Wasserturm gekommen, so Sartor.

Essener Tafel: Von 108 aufgenommenen Personen stammten 105 aus der Ukraine

Auch bei der Tafel macht sich bemerkbar, dass in Essen inzwischen rund 5000 Menschen aus der Ukraine Zuflucht gefunden haben. Maximal 1600 Berechtigungskarten stellt die Essener Tafel aus, 15 Prozent davon gingen an ukrainische Kriegsflüchtlinge, berichtet Sartor.

Bevor der Tafel-Chef Ende April einen ersten Aufnahmestopp verhängte, waren regelmäßig 250 bis 300 Karten nicht vergeben worden. Doch diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Die Preise steigen – für Energie und für Lebensmittel, für Mai lag die Inflation bei 7,9 Prozent. Immer mehr Menschen kommen mit dem, was ihnen im Portemonnaie bleibt, kaum noch aus.

Auch wenn es die Tafeln nicht gäbe, müsste niemand in Deutschland hungern. Jörg Sartor hat diesen Satz schon oft wiederholt. Doch die Zahl der Bedürftigen, die bereit sind, zur Tafel zu gehen, scheint zu wachsen. Denn längst nicht jeder, der dort Lebensmittel bekommen könnte, weil er oder sie Hartz IV bezieht, Wohngeld erhält oder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anspruchsberechtigt ist, nimmt diese Möglichkeit wahr.

Bei der Essener Tafel treffe er Freunde und Bekannte, erzählt ein 62-Jähriger

Jörg Sartor berichtet, dass er in den vergangenen Wochen mehrere Anrufe bekommen habe von Personen, die sich nun aber mit diesem Gedanken tragen, und die bereits sind, die Scham, die sie dabei womöglich empfinden, zu überwinden.

Nein, Scham verspüre sie nicht mehr, sagt die 39-jährige Anna, die vor dem Wasserturm in der Schlange steht. Sie sei Hausfrau, ihr Mann Rentner. Verzicht gehöre zum gemeinsamen Leben. „Man hat fast vergessen, wie Fleisch schmeckt“, erzählt sie.

Während Anna und noch viele andere vor dem Eingang auf Einlass hoffen, wartet Norbert Lauterbach auf den Beginn der Lebensmittelausgabe. Als einer der Ersten hat er seinen Trolley am Hintereingang geparkt. Seine Lebensgeschichte fasst er in wenigen Sätzen zusammen: Meister im Garten- und Landschaftsbau, Kraftfahrer im Fernverkehr, zwei Herzinfarkte, Scheidung, Diabetes, berufsunfähig.

„Früher habe ich gut verdient, bin gerne auch mal ins Kino gegangen“, erzählt er. Vorbei. Heute blieben ihm 180 Euro im Monat. Es ist ein Schicksal von so vielen unter den Tafelgängern.

Jeden Mittwoch packt der 62-Jährige seinen Trolley an der Tafel voll. Dort treffe er auch Freunde und Bekannte. Der Mittwoch sei für ihn der schönste Tag in der Woche.