Essen. . Vor einem Jahr beschloss Jörg Sartor, Chef der Essener Tafel, vorerst keine Ausländer aufzunehmen. Die Folge: ein mediales und politisches Beben.
Vor Weihnachten waren sie noch einmal alle da: „Die Zeit“, ein Reporter vom „Spiegel“, der eine Geschichte für den Jahresrückblick schreiben wollte. „Bollerkopp“ lautet die Zeile über seinem Text. „Bollerkopp“, sagt Jörg Sartor und lächelt, als er das Heft wieder beiseite legt. Sturkopp hätte auch gepasst.
Jörg Sartor, der Chef der Essener Tafel, ist ein bekannter Mann. Und noch immer ist er ein gefragter Gesprächspartner für Journalisten und Politiker. Auch wenn sich die ganze Sache wieder beruhigt hat und die Anrufe inzwischen seltener werden.
Es ist nicht lange her, da klingelte sein Handy gefühlt alle paar Minuten. Am Apparat: Politprominenz aus Berlin und Düsseldorf. Amtierende Minister riefen an und solche, die es einmal waren. Auch Armin Laschet wollte ihn sprechen, um von ihm persönlich zu erfahren, was da los sei in Essen. „Weil er aus dem Auto angerufen hat, war die Verbindung ständig weg“, erzählt Sartor. Der Ministerpräsident versuchte es immer wieder.
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Heute muss Sartor sich manchmal kneifen. Ist wirklich passiert, was er da losgetreten hat, vor gut einem Jahr? „Ich verstehe das bis heute nicht“, sagt er. Und fügt, damit erst gar keine Zweifel aufkommen, hinzu: „Die Entscheidung würde ich heute ganz genauso treffen.“
Informationen über Beschluss auf Internetseite
Damals, im Dezember 2017, hatte der Vorstand der Tafel beschlossen, vorübergehend nur noch Neukunden mit deutschem Pass aufzunehmen und keine Ausländer mehr. Deren Anteil unter den Bedürftigen, die sich am Steeler Wasserturm mit gespendeten Lebensmitteln versorgen, lag bei 75 Prozent. Viel zu viel, fand der Vorstand und informierte über seinen Beschluss auf der Internetseite der Tafel. Es passierte – nichts!
Informationen zur Essener Tafel
Das sollte sich ändern als die WAZ Wochen später bei der Tafel zu einem ganz anderen Thema recherchierte, dabei auf die neue Regel aufmerksam wurde und darüber berichtete. „Ist ja halb so wild“, habe er sich noch gedacht, als er den Artikel beim Frühstück las, erzählt Sartor. „Danach bin ich zum Wasserturm gefahren. Da warteten schon drei Kamerateams.“
Es waren die ersten Wogen einer ungeahnten medialen Welle, die in den folgenden Wochen und Monaten über Sartor und die Essener Tafel hinwegschwappen sollte. Heute weiß wohl jedes Kind, was eine Tafel ist. Es gehört zu den positiven Dingen, die Sartor der ganzen Geschichte abgewinnen kann. Es gibt auch negative.
Bundesweite Aufmerksamkeit
Neulich habe ihm ein Kollege vom Bundesverband der Tafeln anerkennend gesagt, das hätten sie doch gemeinsam prima hingekriegt. Gemeint war die bundesweite Aufmerksamkeit, die den Tafeln und dem Thema Armut in Deutschland so plötzlich zu Teil geworden war. Derselbe Kollege sei ihm anfangs in den Rücken gefallen und habe ihn aufgefordert, den Beschluss wieder zurückzunehmen. Nicht mit Sartor.
Er habe viel gelernt über echte und falsche Freunde. Aus dem Landesvorstand trat er zurück und schickte einen für ihn typischen Gruß hinterher: „Wir brauchen keine Gutmenschen und angestellte Sozialfuzzis, die uns sagen wollen, wie wir unsere Arbeit zu machen haben.“ Ein Bollerkopp eben.
Auch mit einigen Politikern und Journalisten sei er „noch nicht fertig“. Sartor meint jene, die ihm unterstellten, er sei ein Rassist. Er, der sich sechs Tage die Woche für die Tafel den Allerwertesten aufreißt, ein Rassist? Doch Sartor gab dem Affen Zucker, haute Sprüche raus, wie man sie von der AfD kennt oder von noch weiter Rechtsaußen. Syrern und Russlanddeutschen unter seinen Kunden attestierte er ein „Nehmer-Gen“. Damit machte er sich angreifbar, steigerte seinen Bekanntheitsgrad und offenbar auch seinen Marktwert.
Endlich einer, der sagt, was Sache ist. Ein ehemaliger Bergmann dazu, einer aus dem Ruhrgebiet, wo sie das Herz doch auf der Zunge tragen. Jörg Sartor erfüllt jedes Klischee und ist doch authentisch. Keine große Talkrunde, die ihn nicht als Gast haben wollte. Wo seine Schmerzgrenze liege, sei er gefragt worden. Sartor widerstand der Versuchung und der eigenen Eitelkeit.
Aber warum dieser Hype um seine Person und die Entscheidung der Essener Tafel, vorerst keine Ausländer mehr aufzunehmen?
Was sich am Wasserturm wie unter einem Brennglas abspielte, schien für das ganze Land zu gelten
Jörg Sartor und seine Vorstandskollegen hatten ihren Beschluss gefasst, als vielen langsam aufging, welche Folgen die Flüchtlingskrise für dieses Land nach sich ziehen würde. „Wir schaffen das“, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 gesagt. Vielleicht, aber es würde nicht leicht werden. Das war mehr als zwei Jahre später wohl jedem klar. An der Essener Tafel konkurrierten Zuwanderer und Einheimische um Lebensmittel, obwohl für alle genug da war und da ist. Woanders konkurrieren sie um eine Wohnung, um einen Job, von beidem gibt es zuwenig.
Es ging um Armut, um Integration, um große Themen der Politik. In dem der Vorstand der Essener Tafel eine durchaus fragwürdige Entscheidung traf, lenkte er ungewollt den Blick vom großen Ganzen auf die Verhältnisse im Kleinen, in diesem Fall am Steeler Wasserturm. Was sich dort wie unterm Brennglas abspielte, schien fürs ganze Land zu gelten. Jörg Sartor fasste es in Worte, undiplomatisch, überspitzt, ungerecht auch das – und traf doch den Nerv der Zeit.
„Wir wollten Deutschland nicht verändern, das war nie unsere Absicht“, sagt Sartor. Heute sei das Verhältnis zwischen Ausländern und Deutschen unter den Kunden wieder in der Waage. „Das ist es, war wir wollten.“ Jörg Sartor ist mit sich im Reinen.