Essen. Eine ukrainische Familie erzählt von der Zerrissenheit zwischen Essen und Odessa. Ihre Dankbarkeit ist riesig, und doch liegen sie nachts wach.
Sie sind in Sicherheit, haben eine Wohnung in Essen, ihre Dankbarkeit ist unendlich groß. Und ihr Heimweh auch. Seit knapp zwei Monaten lebt die 58 Jahre alte Natalja mit ihren Töchtern Anna (39) und Kateryna (33) und deren Töchtern Waria und Sofia im Ostviertel. Fragt man die beiden kleinen Mädchen nach ihrem größten Wunsch, antworteten sie wie aus einem Mund: „Wir wollen nach Hause.“
Waria ist sechs Jahre alt, Sofia sieben. Sie vermissen ihre Väter, die wie der Großvater in der Ukraine geblieben sind, bleiben mussten. In jenem Odessa, das Natalja in strahlenden Farben malt: die Perle an der Schwarzmeerküste, mit Hafen, Altstadt, Oper, voller Touristen, voll Leben. Heute droht in Odessa der Tod.
In Essen wartete schon eine Wohnung auf sie
Eine Woche nach Kriegsausbruch sind sie losgefahren. Da sei es in ihrer Heimatstadt noch eher ruhig gewesen, sagt Kateryna. „Wir sind wegen der Kinder geflohen.“ Kopflos haben sie gepackt, den Kulturbeutel vergessen und nur Wintersachen mitgenommen; es war bitterkalt, als sie aufbrachen Anfang März. „Wir hatten ja nichts geplant, wir sind keine Auswanderer, die es in ein anderes Land zog“, sagt ihre Mutter Natalja. „Wir sind mitten aus dem Leben gerissen worden.“
Kateryna ist die Einzige der Frauen, die den Führerschein hat. Wenn sie nun, Wochen später, von der Flucht erzählt, spürt man die Verantwortung, die auf ihr lastete. Immer wieder treten ihr Tränen in die Augen. Sieben Tage lang waren sie unterwegs und gleich in der ersten Nacht so verzweifelt, dass sie umkehren wollten. Zig Straßensperren hatten sie auf dem Weg zur Grenze passieren müssen, dann stundenlang gewartet, bis sie nach Moldawien einreisen durften, nur um sich dort im Chaos wiederzufinden. Verloren unter Hunderten von Menschen, ohne Obdach und Essen. Bevor sie auch die Hoffnung verloren, gab ihnen jemand ein Zimmer.
Durch Schnee und Serpentinen, Kälte und Dunkelheit
Als sie am nächsten Morgen ihre Männer anriefen, brachten die sie von einer Rückkehr ab: „Fahrt nicht so lange Strecken, jeden Tag nur 600 Kilometer, aber fahrt.“ So haben sie es gemacht, durch Schnee und Serpentinen, Kälte und Dunkelheit, durch Rumänien, Ungarn, Österreich. „Wir konnten keine Sprachen, wir wussten nicht wohin. Manchmal fuhren wir im Kreis, manchmal saßen wir ohne Internetverbindung am Straßenrand.“ Da konnten sie sich nicht mal telefonischen Trost aus Odessa holen.
In Essen bereiteten da schon Peter Heemann und Ralf (Ralle) Wardetzky von der Werkstatt Solidarität ihre Ankunft vor: Der Jugendhilfeträger hatte zufällig gerade ein paar Wohnungen frei, in denen sonst junge Menschen das Leben trainieren. Drei in Essen, drei weitere in Oberhausen, Mülheim und Duisburg. „Da können jetzt Familien aus der Ukraine wohnen, bis sie wissen, wie es für sie weitergehen soll“, sagt Heemann. Nataljas Schwester, die schon lange in Essen lebt, aber nur ein Zimmer hat, hörte davon und sicherte sich für ihre Lieben eine der Wohnungen. „Ganz leer“ sei die gewesen, sagt Wardetzky. Also habe er eine Erstausstattung besorgt und geschaut, dass die Waschmaschine läuft und der Kühlschrank voll ist.
Keine große Sache, so klingt das bei ihm. Unglaublich, so sehen das die Frauen aus Odessa. „Es waren Lebensmittel da, Bettwäsche, Spielzeug für die Kinder, sogar Shampoo...“, zählt Anna auf. „Es war wie ein ,Herzlich Willkommen’.“ Sie sprechen nur Ukrainisch und Russisch, wenn niemand zum Übersetzen da ist, verständigen sie sich per Handy-App. Wardetzky ist für sie und die beiden anderen ukrainischen Familien in den Essener Wohnungen der Ansprechpartner. Sie sind mit ihm zum Möbellager der Werkstatt Solidarität gefahren, durften sich aussuchen, was doch noch fehlte. „Ralle hat alles hergebracht und angeschlossen. Ohne ihn wüssten wir nicht, was wir machen sollten.“
Auf Sprachkurs und Schulplatz müssen sie noch warten, die beiden Mädchen nehmen so lange am Online-Unterricht im heimischen Odessa teil. Wenn Nataljas Schwester zu Besuch kommt, bringt sie ihnen ein paar deutsche Wörter bei. Sie waren mit den Kindern schon im Zoo in Duisburg und sind dankbar, dass sie mit Bus und Bahn hier kostenlos unterwegs sein können. In Odessa haben die drei Familien nah beieinander gewohnt, hier hat sich ihr Leben auf eine Wohnung verdichtet. „Gut, dass die Mädchen wie zwei Freundinnen sind“, sagt Kateryna. Sie tragen jetzt gespendete Sommersachen, staunen über die große Hilfsbereitschaft, die ihnen überall begegnet, und fühlen sich im Ostviertel wohl.
Mit den Gedanken sind sie in der Ukraine
„Aber mit den Gedanken, mit dem Herzen sind wir in der Ukraine“, sagt Anna. Weil sie auf die Politik ihres Präsidenten Wolodimir Selenskyj vertrauen, auf einen Sieg und ihre Heimkehr hoffen. Und weil sie wach liegen, wenn Odessa bombardiert wird, wie in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai. „Morgens ist der erste Gedanke: Erreichen wir unsere Männer?“ Der eine sei Arzt, der andere Marine-Offizier. „Die haben jetzt viel zu tun.“ Anders als sie.
„Weil wir mit unseren Kindern hier sind, führen wir ein normales Leben“, sagt Kateryna und schaut auf Sofia und Waria. „Sonst würden wir immer nur weinen.“